Die venezolanische Flüchtlingskrise im Kontext des lateinamerikanischen Hyperpräsidentialismus

Von Luisa Feline Freier und Soledad Castillo Jara

Die venezolanische Flüchtlingskrise ist die bedeutendste Zwangsmigration in der jüngeren Geschichte Lateinamerikas. Sie stellt Institutionen und Regierungen der Region vor ernste Herausforderungen. Obgleich hunderttausende VenezolanerInnen in der Nachbarschaft Zuflucht gefunden haben, stellt ihre Nichtanerkennung als Flüchtlinge in vielen Staaten einen Gesetzesbruch dar. Das Mosaik an politischen Reaktionen lässt sich vor dem Hintergrund des lateinamerikanischen Hyperpräsidentialismus erklären.

Venezuela – bis vor kurzem der reichste Staat in der Region – befindet sich unter Präsident Nicolás Maduro in einer tiefen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Krise, welche die New York Times als den dramatischsten Kollaps eines Staates in Jahrzehnten außerhalb von Kriegsszenarien bezeichnet. Venezuela kann die Grundbedürfnisse seiner BürgerInnen seit langem nicht erfüllen. In direkter Konsequenz haben seit 2015 mehr als drei Millionen VenezolanerInnen ihr Land verlassen. Anfang 2019 lebten laut der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) offiziell über 1,2 Millionen VenezolanerInnen in Kolumbien und rund 700.000 in Peru, 250.000 in Ecuador, 130.000 in Argentinien, 266.000 in Chile und 100.000 in Brasilien.

Ursachen der Flucht: Armut, Unsicherheit & politische Verfolgung

Rund 87% der VenezolanerInnen leben unter der nationalen Armutsgrenze, über 60% leben in absoluter Armut, und etwa ein Drittel nahmen bereits Anfang 2018 weniger als drei Mahlzeiten pro Tag zu sich. Zu diesem Zeitpunkt entsprach ein Lebensmittelkorb einem zwanzigmonatigen Mindestlohn in Venezuela – damals nur acht Dollar. Zwar wurde der Mindestlohn Anfang 2019 auf rund 20 Dollar erhöht, doch aufgrund der Hyperinflation – bis zu 10 Millionen Prozent in diesem Jahr – entspricht diese Summe nur dem Preis von rund zwei Kilo Fleisch. In vielen Teilen Venezuelas leiden Kinder an Unterernährung. Bereits Ende 2018 litten über 30% der Kinder als Folge von Unterernährung an irreversiblen körperlichen und psychischen Schäden.

Fast 90% der Krankenhäuser fehlt es an Medikamenten und 80% an chirurgischem Material. Mehr als 90% der Radiographie- und Tomographiedienste sind außer Betrieb; 50% der Operationsräume sind nicht nutzbar und 70% der Notaufnahmen sind wegen Wasser- oder Strommangel nur zeitweise in Betrieb. Patienten mit Krebs, Nierenerkrankungen und Diabetes sind von dieser Krise besonders betroffen, weil sie nicht regelmäßig Medikamente und Behandlungen erhalten können. Die Stromausfälle im März 2019 führten zum Tod von 20 Menschen – hauptsächlich Patienten mit Nierenerkrankungen, die ihre Dialysebehandlungen nicht abschließen konnten.

Massive Unsicherheit ist ein weiterer Aspekt der venezolanischen Krise. Morde, Diebstähle und die Kriminalität insgesamt haben zugenommen. Im vergangenen Jahr agierten in Venezuela rund 18.000 kriminelle Banden, viele mit direkten Verbindungen zur Regierung. Mit einer Homizidrate von 91,8 pro 100.000 Einwohner ist Venezuela das zweitgewalttätigste Land der Welt. Neben der organisierten Kriminalität grassiert wegen der aussichtlosen ökonomischen Lage auch die Kleinkriminalität.

Auch die persönlichen Freiheiten der VenezolanerInnen sind massiv beeinträchtigt. Hauptprobleme sind willkürliche Festnahmen und der übermäßige Einsatz von Gewalt durch die Bolivarische Nationalgarde (GNB) und den Bolivarischen Nationalen Nachrichtendienst (SEBIN). Zwischen Januar 2014 und November 2018 wurden rund 13.000 Personen willkürlich inhaftiert und es wurden zahlreiche Fälle von körperlicher und psychischer Misshandlung durch GNB und SEBIN dokumentiert. Ferner missbraucht die Regierung die humanitäre Krise, um politische Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben, indem die Behörden nach Gutdünken über den Zugang zur Grundversorgung entscheiden. Ein Beispiel dafür ist der Carnet de la Patria. Diesen Ausweis müssen VenezolanerInnen vorlegen, um Zugang zu sozialen Diensten wie zum Beispiel Renten und Lebensmittel mit subventioniertem Preis zu erlangen. Den Behörden ermöglicht er jedoch, auch auf die persönlichen Daten der Bürger zuzugreifen. Laut einer von Reuters durchgeführten Untersuchung speichert die venezolanische Regierung Informationen über Wahlbeteiligung, Krankengeschichte, Präsenz in sozialen Netzwerken und Mitgliedschaft in politischen Parteien. Anhand dieser Informationen kann das Regime den Zugang zu sozialen Diensten und Grundnahrungsmitteln von der Gefolgschaft ihrer Bürger abhängig machen und unliebsame Personen diskriminieren.

Ein Mosaik an politischen Reaktionen

Die regionale Erklärung von Cartagena aus dem Jahr 1984 umfasst einen weiteren Flüchtlingsbegriff, als die der persönlichen Verfolgung in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und ließe sich prima facie auf alle VenezolanerInnen anwenden. Die venezolanische Krise erfüllt drei der Kriterien der Erklärung von Cartagena, welche 15 lateinamerikanische Staaten in ihre nationale Gesetzgebung übernommen haben: allgemeine Gewalt, massive Verletzung der Menschenrechte und Zerstörung der öffentlichen Ordnung. Das bedeutet, dass die Mehrheit der lateinamerikanischen Länder rechtlich verpflichtet ist, venezolanische AsylbewerberInnen als Flüchtlinge anzuerkennen und Schutzmaßnahmen für sie umzusetzen. Jedoch ist Mexiko das einzige Land in der Region, welches dieser Verpflichtung nachkommt.

Obwohl der rechtliche Kontext in allen südamerikanischen Ländern ähnlich ist und es den südamerikanischen Staaten fast ausnahmslos möglich gewesen wäre, VenezolanerInnen entweder unter Cartagena als Flüchtlinge anzuerkennen oder die Aufenthaltsvereinbarung des Regionalblocks Mercosur aufrecht zu erhalten, führte die venezolanische Flüchtlingskrise zu einer  Bandbreite an politischen Reaktionen in der Region. Argentinien, Brasilien und Uruguay entschieden unilateral, venezolanischen StaatsbürgerInnen die Mercosur Aufenthaltsgenehmigung für zwei Jahre mit anschließendem möglichen Daueraufenthaltsrecht auszustellen. Ecuador hingegen hielt sich zunächst an diejenige der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), einer 2018 gegründeten politisch links ausgerichtete Internationalen Organisation.

Chile, Kolumbien und Peru führten zeitlich begrenzte Sonderaufenthaltsgenehmigungen ein, während Panama und Bolivien Legalisierungsprogramme anboten. Ecuador, Panama und Peru verschärften gleichzeitig die Einreise- und Visabestimmungen für VenezolanerInnen. Die karibischen Staaten Trinidad und Tobago und die Dominikanische Republik hingegen wenden klar restriktive Maßnahmen wie Sanktionen und Abschiebungen an.

Der lateinamerikanische Präsidentialismus

Die unterschiedlichen Reaktionen lassen sich vor dem Hintergrund des lateinamerikanischen Hyperpräsidentialismus erklären. Das Präsidialsystem ist tief in der Tradition der lateinamerikanischen Länder verwurzelt, da diese zum Zeitpunkt ihrer Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert republikanische Ideale verfolgten und vom amerikanischen Verfassungsmodell beeinflusst wurden. Die Befugnisse lateinamerikanischer Präsidenten gehen jedoch über das US-amerikanische Model hinaus und beflügeln den historischen und kulturellen Hang zum caudillismo – den Verlass auf einen charismatischen und oftmals autoritären Anführer.

Im Kontext des lateinamerikanischen Hyperpräsidialismus ist die Ideologie des amtierenden Präsidenten ein entscheidender Faktor für die Ausrichtung der nationalen Migrations- und Flüchtlingspolitik. Laut Acosta und Freier waren es Präsidenten mit linker oder linkspopulistischer Ideologie, die den progressiven Paradigmenwechsel in den Migrations- und Flüchtlingsgesetzen der 2000er Jahre einleiteten. Einige dieser Präsidenten waren bezüglich des Flüchtlingsschutzes besonders sensibilisiert, da sie selbst aufgrund der Diktaturen der 1970er und 1980er Jahre Exil-Erfahrungen gemacht hatten. Im Kontext lateinamerikanischer Auswanderung aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Instabilität in der Region um die Jahrtausendwende war es politisch opportun, die restriktive Politik der Vereinigten Staaten und der europäischen Staaten zu kritisieren und eine größere Offenheit und mehr Rechte für MigrantInnen und Flüchtlinge zu versprechen.

Die Zwangsauswanderung der VenezolanerInnen hingegen fiel mit dem Wiederaufleben der politischen Rechten in Lateinamerika zusammen. In diesem neuen Zusammenhang rückte das Thema der nationalen Sicherheit wieder in den Mittelpunkt der migrationspolitischen Debatten in der Region. Ein Beispiel dafür ist der Rückzug Brasiliens und Chiles unter Jair Bolsonaro und Sebastián Piñera aus dem Globalen Pakt für Sichere, Geordnete und Reguläre Migration. Interessanterweise erklären Freier und Parent, dass es für konservative Regierungen wie die Kolumbiens, Perus, Chiles, Argentiniens und Brasiliens zumindest anfangs politisch durchaus sinnvoll war, Venezolaner wohlwollend zu empfangen, da dies im Kontext internationaler Beziehungen ein klares Urteil gegen das linksgerichtete Regime Maduros aussprach. Auch sahen viele der Regierungen in den relativ gut ausgebildeten VenezolanerInnen entwicklungspolitisches Potential. Linke Regierungen wie die Ecuadors und Boliviens hingegen leugneten die Existenz der venezolanischen humanitären Krise und daher auch der Flüchtlingskrise noch bis Mitte letzten Jahres. Mit dem rapiden Anstieg der Zahl der venezolanischen Neuankömmlinge rückte die venezolanische Flüchtlingskrise jedoch zunehmend ins Zentrum innenpolitischer Debatten und führte dazu, dass die Regierungen in der Region, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, zunehmend restriktivere Maßnahmen ergreifen.

Regionale Risiken: Fremdenfeindlichkeit & politische Radikalisierung

Die Reaktionen auf die Vertreibung venezolanischer BürgerInnen sind von Exekutiven und nicht von Parlamenten oder regionalen Organisationen bestimmt worden. Eine Migrationspolitik, die so stark von den Ideologien und politischen Ambitionen der Präsidenten abhängig ist, birgt vor dem Hintergrund wachsender Fremdenfeindlichkeit eine Reihe von Risiken – unter anderem die Radikalisierung der politischen Landschaft Lateinamerikas. Dies erschließt sich aus der Analyse einiger der jüngsten politischen Reaktionen auf die venezolanische Zwangsmigration.

Die ecuadorianische Regierung z.B. fordert in Reaktion auf die wachsende Fremdenfeindlichkeit und nach einer Welle von Gewalt gegen Venezolaner als Vergeltung für die Ermordung einer Frau, Strafregisterbescheinigungen für Venezolaner, welche die Grenze passieren wollen. Aufgrund des in vielen Bereichen kollabierten öffentlichen Dienstes und der hohen Preise infolge der grassierenden Korruption sind diese Bescheinigungen jedoch für die meisten VenezolanerInnen – ähnlich wie Reisepässe – schlicht außer Reichweite.

In der brasilianischen Stadt Paracaima zwang ein Brandanschlag auf ein vom Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) verwaltetes Flüchtlingscamps – eine Vergeltungsmaßnahme für mutmaßlich von VenezolanerInnen verübte Raubüberfälle – hunderte von Menschen zur Rückkehr nach Venezuela. In Boa Vista (Brasilien) führte die Ermordung eines Venezolaners, der angeblich einen lokalen Einwohner getötet hatte, ebenfalls dazu, dass hunderte von Menschen nach Venezuela zurückkehrten. Aufgrund solcher Situationen stehen die Regierungen der anderen lateinamerikanischen Staaten unter Druck, das „Problem“ der venezolanischen Immigration in den Griff zu bekommen.

Die Fremdenfeindlichkeit, die in den oben genannten Beispielen deutlich wird, erinnert auch an die jüngsten europäischen Erfahrungen. In Lateinamerika besteht die Gefahr einer zunehmenden Politisierung der Migrationsfrage, die von fremdenfeindlichen Bewegungen und Parteien der extremen Rechten oder extremen Linken ausgenutzt werden kann.  Die Besorgnis über dieses Risiko beruht also auch auf den Erfahrungen Europas und der Vereinigten Staaten, in denen das Thema Migration eine zentrale Rolle in der Debatte über die nationale Identität und das Wohlergehen des Volkes gespielt hat, und Gewalt gegen Flüchtlinge extremistische Gruppen an die Öffentlichkeit gebracht hat. Auch ohne eine große Anzahl aktiver Anhänger haben solche Gruppen die Möglichkeit, ihren Diskurs im virtuellen Raum zu verstärken. Im lateinamerikanischen hyperpräsidentiellen Kontext können extremistische Ideen neuer links- oder rechtsradikaler Präsidenten schnell zu diskriminierenden und rechtswidrigen Maßnahmen führen. Es bleibt zu hoffen, dass Lateinamerika aus den Erfahrungen anderer Länder lernt und sich nicht von der globalen Welle der Fremdenfeindlichkeit und des neu erstarkten Nationalismus mitreißen lässt.

Teilen Sie den Beitrag

Facebook
Twitter
LinkedIn
XING
Email
Print