Das System: Woran scheitert Flüchtlingsschutz eigentlich?

Das Flüchtlingsschutzsystem steht vor großen Herausforderungen: wie wird geschützt, wer finanziert was und aus welchen Gründen? Ein Überblick, wie Flüchtlingsschutz international organisiert ist und woran es mangelt.

 

Mitte April sanken zwei Schiffe, in denen ZwangsmigrantInnen versuchten, nach Europa zu kommen. Zwei Schiffe, von denen berichtet wurde. Die Medien reagierten mit einem lauten Aufschrei und die europäischen Regierungschefs mit einem 10-Punkte Plan, der auf Abschottung und Abschreckung sowie den Kampf gegen Schleuser setzt, aber menschen- und flüchtlingsrechtliche Verpflichtungen weitgehend außer Acht lässt. Langsam werden auch wissenschaftliche Stimmen lauter, die Kritik üben, andere Perspektiven aufzeigen und tatsächliche Handlungsmöglichkeiten hervorheben. So betonen Alexander Betts und Olaf Kleist die Relevanz des Comprehensive Plan of Action der 1980er Jahre als Handlungsansatz für die derzeitige Lage im Mittelmeer.

Die vielfältigen Diskussionen über Flüchtlinge und Handlungsansätze sind begrüßenswert, aber brauchten wir dafür so viele Tote? Es steht außer Frage, dass Hilfsstrukturen geschaffen und gestärkt werden müssen, um Flüchtlinge zu schützen. Es steht auch außer Frage, dass finanzielle Mittel sowie politischer Wille für diese Hilfsstrukturen notwendig sind und sein werden. Aber die derzeitigen Diskussionen auf politischer Ebene deuten nicht auf eben diesen Willen hin, die Strukturen auf menschenrechtlicher und menschenwürdiger Basis zu etablieren. Alexander Betts, Direktor des Refugee Studies Center, Universität Oxford sagte kürzlich in einem Interview:

“Die Syrienkrise setzt das gesamte humanitäre System an einen Scheideweg. Sie verlangt von uns, radikal zu überdenken, wie wir eine solch große Anzahl von Vertriebenen schützen und unterstützen.“ (übersetzt)

Dieses Zitat ist zentral für die derzeitige Situation, denn es zeigt, dass nicht nur Europa, sondern vor allem andere Länder eine Zunahme an Flüchtlingen erfahren. Darüber wird hierzulande aber deutlich weniger berichtet.

 

Weltweite Trends

Allein in der ersten Jahreshälfte von 2014 gab es laut UNHCR 4,3 Mio. neue Vertriebenen. Diese Situation ist durch Krisenherde geprägt, was vor allem dadurch verdeutlicht wird, dass die UN derzeit vier Länder als Level 3 Emergencies klassifiziert: Syrien, Irak, Südsudan und die Zentralafrikanische Republik (Mehr zu den Levels siehe Link). Bereits diese vier Länder ergeben ca. 17 Mio. Flüchtlinge und Binnenvertriebene, wobei Menschen weltweit in und aus 185 Ländern und Territorien fliehen. Insbesondere die Zahl der Binnenvertriebenen nimmt weiterhin weltweit zu: So beherbergt bspw. Afghanistan 829 300, Kolumbien mehr als 5,7 Mio., DR-Kongo knapp 3 Mio., Nigeria mehr als 1,2 Mio., Pakistan ca. 1,8 Mio., Sudan mehr als 3 Mio. und die Ukraine mehr als 1,2 Mio. Binnenvertriebene. Aber Binnenvertriebenen stehen nicht unter völkerrechtlichem, sondern nationalem Schutz.

Doch wo gehen die Menschen hin? Während Binnenvertriebene in ihren Heimatländer fliehen, überqueren Flüchtlinge Landesgrenzen. Allerdings flieht die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge in Nachbarländer und bleibt somit in ihren Herkunftsregionen. So sind bspw. die meisten syrischen Flüchtlinge im Libanon, der Türkei und Jordanien, afghanische Flüchtlinge in Pakistan und im Iran, sowie südsudanesische und kongolesische Flüchtlinge in Uganda (UNHCR, S. 4-7).

 

Alexander Betts spricht in seinem oben genannten Zitat davon, dass sich das humanitäre System an einem Scheideweg befindet. Doch was bedeutet das?

 

Was funktioniert nicht und warum?

Das System: Trotz vielfältiger Hilfsmaßnahmen weltweit, die insbesondere durch UNHCR geleitet und unterstützt werden, konzentriert sich das Flüchtlingsschutzregime auf Flüchtlinge im Exil, was durch politische Eliten geleitet ist. Somit zeigt sich nicht nur, dass Personen erst dann geholfen wird, wenn sie vertrieben sind, traumatische Ereignisse durchlebten und im Exil ohne ihre Existenz überleben müssen, sondern auch dass die, die über die Hilfsgelder und somit Unterstützungsmöglichkeiten entscheiden, fernab von denen sind, die sie erhalten sollen. Das kreiert ein deutliches Machtgefälle und bedingt eine Rahmung, in der Entscheidungen für aber nicht mit Flüchtlingen gefällt werden.

Die Finanzen: Mit der Etablierung von UNHCR im Jahr 1950 wurde das Mandat im Statut so gerahmt, dass lediglich administrative Kosten durch das Sekretariat der UN laufend übernommen werden, während die tatsächliche Flüchtlingsarbeit ausschließlich durch freiwillige Beiträge (Kapitel III, Artikel 20) zu finanzieren ist. Das ist wahrscheinlich darin begründet, dass UNHCR eigentlich nicht operativ tätig sein sollte, was aber binnen kurzer Zeit nach der Etablierung nicht mehr ausreichte. In anderen Worten bedeutet das seither: UNHCR muss regelmäßig um Spenden bitten. Aber Situationen, die für Geber nicht attraktiv sind, bleiben oft unterfinanziert.

Kürzlich schrieb Jeff Crisp auf der Grundlage einer Ansprache des hohen Kommissars Antonio Gutierrez über eine neue Finanzierungsformel, die bemessene anstelle von freiwilligen Beiträgen in den Mittelpunkt stellt. Dieser neue Ansatz ist interessant, blieb aber bislang weitestgehend unberücksichtigt. Denn letztlich gibt die alte Finanzierungsformel den Gebern viel Macht, darüber zu entscheiden, wo Gelder hinfließen und wo nicht, was sicherlich auch mit geopolitischen Interessen im Zusammenhang steht.

Der Hilfsansatz und die Flüchtlingsdauer: Zu Recht ist die Flüchtlingshilfe als Not- und Soforthilfe klassifiziert, denn Menschen brauchen unmittelbar Unterstützung in humanitären Notlagen. Auf den ersten Blick wird allerdings nicht klar, dass Flüchtlinge einerseits zum großen Teil in Lagern untergebracht sind, in denen sie restriktive und limitierende Strukturen vorfinden. Andererseits halten die Flüchtlingssituationen zunehmend lang an, weil keine der drei dauerhaften Lösungen – Rückführung in das Heimatland, lokale Integration im Erstasylland oder Umsiedlung in ein Drittland – innerhalb kurzer Zeit nach der Flucht umsetzbar ist. Es entstehen Langzeitsituationen (engl. protracted refugee situations), deren durchschnittliche Dauer auf 20 Jahre geschätzt wird. Wenn das Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit nun ankündigt, es wolle Fluchtursachen bekämpfen, dann ist das grundsätzlich progressiv und scheint alte exilorientierte Strukturen zu durchbrechen. Es besteht indes die Notwendigkeit, nicht nur neue Fluchtursachen anzugehen, sondern vor allem die Langzeitsituationen einzuschließen. Flüchtlinge sind nämlich lange im Exil, weil ihre Fluchtursachen nach wie vor bestehen.

Unabhängig davon reicht die Not- und Soforthilfe nicht aus. Wenn Flüchtlinge über Jahre und Jahrzehnte im Exil leben, brauchen sie mehr als Decken, Wasser und Nahrung. Sie brauchen Möglichkeiten für Entwicklung und Entfaltung. Aber: Nothilfe basiert auf kurzfristigen Projekten, während Langzeitsituationen mittelfristige Projekte bedürfen. Hier wäre wieder eine Reform von UNHCR’s Finanzierungssystem gefragt, damit diese Mittelfristigkeit ermöglicht wird. Jedoch sind Langzeitsituationen für viele Geber nicht attraktiv – wer will schon Flüchtlingssituationen finanzieren, die über Jahrzehnte andauern? Da die finanziellen Beiträge, Kooperationen und spezifische Unterstützungen von Lösungsansätzen (bspw. die Aufnahme von Flüchtlingen) auf freiwilliger Basis stattfindet, bleiben Handlungsräume stark begrenzt und Flüchtlinge oft die Leidtragenden. Darüber hinaus sind die meisten Flüchtlinge in Entwicklungsländern, die häufig instabile Strukturen aufweisen, sodass die Verbindung der Flüchtlingsarbeit mit der Entwicklungszusammenarbeit naheliegend ist. Dieser Gedanke ist nicht neu und wird seit den 1960er Jahren versucht umzusetzen – bislang leider recht erfolglos. Mit neuen Ansätzen und Kooperationen wird aber aktuell die Transition Solution Initiative plus umgesetzt, die auf Fortschritte hoffen lässt.

Flüchtlinge und ihre Umgebung: Das Team des Humanitarian Innovation Project (HIP) der Universität Oxford veröffentlichte 2014 einen Bericht, in dem sie u.a. belegen, dass sich Flüchtlinge wirtschaftlich in Asylländern engagieren, sie keine Lasten für die Länder darstellen, und vielfältigen Arbeiten nachgehen. Das Projekt basiert auf Fallstudien in Uganda, wo auch unser Forschungsprojekt „Genderbeziehungen im begrenzten Raum“ am Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg arbeitet. Obgleich wir durchaus Abhängigkeitsstrukturen und vielfältige Herausforderungen für Flüchtlinge gesehen haben, so verdeutlicht der Bericht des HIP vor allem eines: Das System, was Flüchtlingsarbeit und -schutz rahmt, ist veraltet und überholungsbedürftig. Denn es geht zum Teil von Stereotypen aus und vernachlässigt neue Entwicklungen und innovative Ansätze. Trotz aktueller Ansätze, die hauptsächlich auf Resilienz setzen, muss mehr getan werden, denn auch das ist nichts Neues. Ähnliches wurde zuvor durch die Förderung der Selbstständigkeit angegangen.

Die Flüchtlinge: In den Medien, der Politik und der Flüchtlingsarbeit werden Flüchtlinge häufig als Opfer porträtiert. Diese Opferbetrachtung hielt auch im wissenschaftlichen Kontext lange an, wird aber mittlerweile zunehmend kritisiert. David Turton spitzte die Opferbetrachtung in einem Artikel wie folgt zu:

“[…] wir riskieren, sie als homogene Massen bedürftiger und passiver Opfer zu sehen. Aber die Wahrheit ist, dass es so etwas wie ‘die Flüchtlingserfahrung’ […] nicht gibt und daher ebenso wenig ‘die Flüchtlingsstimmen’: es gibt nur die Erfahrungen und Stimmen von Flüchtlingen.“ (übersetzt, S. 7)

Wenn wir also von den oben dargestellten Millionen Flüchtlingen und Binnenvertriebenen sprechen, dann sollten wir uns vergegenwärtigen, dass hinter den Zahlen Millionen von Einzelpersonen mit individuellen Schicksalen stecken. Das bedeutet gleichwohl auch, dass all diese Personen nicht nur als Flüchtlinge betrachtet werden sollten, was ein durch die Politik, die Rechtssysteme und von uns allen oktroyiertes Konstrukt darstellt und Auswirkungen auf die In- und Exklusion hat, wie auch Albert Scherr und Sybille de la Rosa darlegen. Vielmehr sind sie Personen, die mit ihren Situationen und Limitierungen umgehen, oft nicht wissen, wie es weitergeht, und dennoch versuchen, sich neue Existenzen aufzubauen. Sie sind keine homogenen Massen, sondern ganz vielfältige Personen, deren Menschenrechte eingeschränkt werden. Es sind Personen mit Bedürfnissen und Forderungen, Wünschen und Potentialen. Das muss auch in der Flüchtlingsarbeit integriert werden, sodass Hilfsorganisationen nicht mehr Entscheidungen für sondern mit Flüchtlingen treffen, und sie sie partizipativ in Projekte involvieren.

 

Und nun?

Die globalen Entwicklungen zeigen deutlich, dass die internationale Gemeinschaft immense Schwierigkeiten mit den humanitären Herausforderungen der Gegenwart hat. Dies betrifft nicht nur neue Flüchtlingskrisen, sondern insbesondere auch Langzeitsituationen, in denen Vertriebene leben. So steht die internationale Gemeinschaft vor dem Scheideweg: entweder wird die derzeitige Politik des kurzfristigen Handelns weitergeführt, in der menschenunwürdige Tragödien bestehen bleiben, oder Entscheidungsträger führen das fort, was mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 begann: eine Politik umzusetzen, die

„in Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“.

Eine solche Politik ist aber nicht gezeichnet von Abschreckung und Abschottung einer Festung Europas, von Ideen über Aufnahmelager in Nordafrika, von der Kriminalisierung von Schleusern, oder von der Klassifizierung von guten (wirtschaftlich relevanten) und anderen Flüchtlingen. Eine solche Politik ist vielmehr gezeichnet davon, dass Entscheidungsträger kritisch die Gegebenheiten und das bestehende System hinterfragen, Lücken und Herausforderungen ohne geopolitische Färbung identifizieren, und konstruktive Lösungen suchen und umsetzen. Eine solche Politik setzt die menschliche Sicherheit in den Mittelpunkt und ersucht Kooperationsmöglichkeiten. Letztlich ist eine solche Politik eine menschenrechtsbasierte Flüchtlingspolitik, die nicht weitere tausend Tote braucht, um zu reagieren. Sie wäre vielmehr proaktiv.

 

Dieser Beitrag ist zeitgleich im MiGAZIN und dem FlüchtlingsforschungsBlog veröffentlicht.

 

Der Beitrag ist im Rahmen des  Forschungsprojekts „Genderbeziehungen im begrenzten Raum. Bedingungen, Ausmaß und Formen von sexueller Gewalt an Frauen in kriegsbedingten Flüchtlingslagern“ entstanden, das am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg durchgeführt und durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung unterstützt wird, bei der ich mich hiermit vielmals bedanke.

 

Photo Credits:

(c) UNHCR (2014), Global Trends 2013: War’s Human Cost (Geneva: UNHCR), S. 3

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