Die Angst vor der syrischen Großfamilie: Familiennachzug für Syrer aussetzen?

Kaum hat man sich in der Koalition darüber verständigt, an Deutschlands Grenzen keine Transit-Lager einzurichten, ist ein Streit um den Familiennachzug zu Syrern entbrannt. Syrische Schutzsuchende sollen künftig nicht den Konventionsflüchtlingsstatus (Schutz vor Verfolgung), sondern den subsidiären Schutzstatus (u.a. Bürgerkriegsflüchtlinge) erhalten und dann ihre Familienangehörigen nicht mehr nachziehen dürfen. Das sei notwendig, um Deutschland vor einer Vervielfachung der Zuzugszahlen zu schützen. Pro Schutzberechtigtem sei durchschnittlich mit drei, mit vier, mit bis zu acht nachziehenden Familienangehörigen zu rechnen. Entsprechend werden die für 2015 erwarteten Antragszahlen von über 800‘000 in der Debatte hochgerechnet auf viele Millionen Menschen.

Nachzugsfähig sind grundsätzlich nur Kernfamilienmitglieder anerkannt Schutzberechtigter, also Ehe- und Lebenspartner und minderjährige, unverheiratete Kinder bzw. Eltern allein reisender Kinder, §§ 27 Abs. 2, 29, 36 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Unter den anerkannt Schutzberechtigten befinden sich auch viele Familien, junge kinderlose und andere Menschen, die niemanden nachholen werden. Angesichts dessen fragt man sich unwillkürlich, wie groß die zurückgelassene Kinderschar mancher Syrer sein muss, um auf derartige Durchschnittszahlen zu kommen. Aber einmal abgesehen von der Fragwürdigkeit der derzeit kursierenden Kalkulationen: Wäre die geplante Beschränkung denn rechtlich zulässig?

Es geht bei dem Vorschlag nicht darum, Syrern künftig automatisch nur noch den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, und auch nicht darum, Beschränkungen nur für Syrer einzuführen. Es soll vielmehr die gegenwärtige Praxis, Syrern im Schnellverfahren meist den Konventionsflüchtlingsstatus zuzugestehen, aufgegeben und wieder jeder Fall eingehender geprüft werden. Viele Syrer werden sich als Konventionsflüchtlinge herausstellen – etwa wenn sie ohne gravierende Folgen ihre politische Meinung nicht sagen oder ihre Religion nicht ausüben können -, andere flüchten „nur“ vor dem Bürgerkrieg. Rechtlich ist gegen die Aufgabe der bisherigen Praxis nichts zu sagen, sie hatte allerdings einen pragmatischen Sinn: Die Verfahren ließen sich so beschleunigen, und es entstand weniger Anlass für Rechtsstreitigkeiten. Wenn nun wieder eingehender geprüft und ggf. gestritten werden muss, ändert sich das, in einer Situation, in der das personell unzureichend ausgestattete BAMF ohnehin überlastet ist.

Was gilt nun für den Familiennachzug derjenigen, die den subsidiären Schutzstatus erhalten? Dazu wird gerne auf Art. 23 der europäischen Qualifikations-Richtlinie (QRL) verwiesen, wonach die Familieneinheit zu gewährleisten sei. Die Vorschrift gilt in der Tat auch für subsidiär Schutzberechtigte. Sie betrifft allerdings die Aufrechterhaltung der Familieneinheit, nicht die Herstellung.  Für den Nachzug von Familienmitgliedern, die sich noch in Syrien oder auch z.B. in der Türkei befinden – um die geht es aktuell -, lässt sich Art. 23 QRL nicht fruchtbar machen. Um Familienangehöriger im Sinne der Qualifikations-Richtlinie zu sein, muss man sich bereits in demselben Mitgliedstaat aufhalten wie die Person, mit der die Familieneinheit aufrechterhalten werden soll, Art. 2 lit. j QRL.

Unionsrechtlich einschlägig für die Herstellung der Familieneinheit ist die Familienzusammenführungs-Richtlinie. Die Idee dieser Richtlinie ist, dass Drittstaatsangehörige, die sich legal und nicht nur vorübergehend in der EU aufhalten, dies grundsätzlich zusammen mit ihren Kernfamilienangehörigen tun können sollen. Als die Richtlinie 2003 in Kraft trat, war das europäische Asylrecht erst im Entstehen begriffen, und internationale und nationale subsidiäre Schutztatbestände wurden, anders als der Konventionsflüchtlingsstatus, aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen. Der unionale subsidiäre Schutzstatus entstand 2004 mit der Qualifikations-Richtlinie und ist mit der Neufassung der Qualifikations-Richtlinie 2012 dem Konventionsflüchtlingsstatus weitgehend angeglichen worden. Im Hinblick auf diese Vereinheitlichung erscheint es konsequent, die Familienzusammenführungs-Richtlinie entsprechend anzupassen. Dazu gibt es bisher ein Grünbuch, das den Ausschluss subsidiär Schutzberechtigter wegen des „identischen Schutzbedarfs“ infrage stellt. Supranational verpflichtend ist der Familiennachzug also bisher nur für Konventionsflüchtlinge. Auf Nachzugsvoraussetzungen wie Lebensunterhaltssicherung, Wohnraum, Deutschkenntnisse oder bestimmte Voraufenthaltszeiten muss dabei verzichtet werden, Art. 2 lit. b, 9 Abs. 1, 12 FamZF-RL.

Supranational ist noch die Massenzustrom-Richtlinie erwähnenswert. Zwar findet sie in der gegenwärtigen Krise keine Anwendung, es müsste erst durch Ratsbeschluss festgestellt werden, dass ein Anwendungsfall eingetreten ist, und darauf hat man sich angesichts der verfahrenen europäischen Lastenteilungsdiskussion nicht verständigen können. Interessant ist aber in unserem Zusammenhang, in dem ja mit der Notwendigkeit einer Nachzugsbegrenzung wegen hoher Zugangszahlen argumentiert wird, die in Art. 15 Abs. 1 lit. a, Abs. 3 der Richtlinie enthaltene Wertung, dass trotz des Massenzustroms und des als vorübergehend angenommenen Schutzstatus der Familiennachzug jedenfalls dann gewährt werden muss, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft fluchtbedingt aufgehoben wurde und die zurückgebliebenen Familienangehörigen ihrerseits schutzbedürftig sind. Der deutsche Gesetzgeber hat das in Art. 29 Abs. 4 AufenthG umgesetzt.

Im deutschen Recht galt bis 2013, dass subsidiär Schutzberechtigten der Familiennachzug nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland erlaubt werden darf, § 29 Abs. 3 S. 1 3. Alt. AufenthG a.F.. Nach der Aufwertung des subsidiären Schutzstatus in der Qualifikations-Richtliniennovelle hat der deutsche Gesetzgeber den Familiennachzug von subsidiär Schutzberechtigten erleichtert und 2015 dann in vollem Umfang an die Regeln für Konventionsflüchtlinge angepasst. Derzeit gilt für Konventionsflüchtlinge, Asylberechtigte nach Art. 16 a GG und subsidiär Schutzberechtigte gleichermaßen, dass sie Kernfamilienmitglieder unter Verzicht auf die oben genannten Nachzugsvoraussetzungen nachholen dürfen, wenn sie den Antrag innerhalb von drei Monaten nach ihrer Anerkennung stellen und die Familieneinheit nicht in einem Drittstaat herstellbar ist, zu dem mindestens einer der Beteiligten eine besondere Bindung hat, § 29 Abs. 2 S. 2, § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 AufenthG. Das ist im Prinzip änderbar, aber natürlich nicht einfach durch Koalitionsbeschluss.

Will man es denn ändern, wären menschenrechtliche Grenzen einzuhalten, die sich hier insbesondere aus dem Recht auf Ehe und Familie ergeben können. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht (BVerfG) lässt sich aus Art. 6 Abs. 1 GG kein Recht in Deutschland aufenthaltsberechtigter Personen ableiten, ausländische Familienmitglieder, und seien es auch Kernfamilienmitglieder, stets nachholen. Deutschland hat insoweit einen migrationspolitischen Gestaltungsspielraum, muss allerdings bei Regelungen, die das Recht auf Ehe und Familie berühren – also auch beim Familiennachzug – den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren. Dabei ist das öffentliche Interesse insbesondere an Zuwanderungsbegrenzung mit dem privaten Zuzugsinteresse in angemessenen Ausgleich zu bringen. Eine vergleichbare Pflicht zur Abwägung besteht unter Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Die Frage, auf die das Ganze rechtlich hinausläuft, lautet also: Ist die Möglichkeit des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte eine Großzügigkeit, die man mit Blick auf die gestiegenen Zugangszahlen abschaffen kann, oder handelt es sich um ein Gebot der Verhältnismäßigkeit?

Sollte der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte tatsächlich generell ausgesetzt werden, wird es sich auf jeden Fall lohnen, dazu die Gerichte anzurufen. Auch vor der Gleichstellung mit den Konventionsflüchtlingen bestand für subsidiär Schutzberechtigte kein genereller Ausschluss vom Familiennachzug, sondern es musste im Einzelfall geprüft werden, ob humanitäre oder völkerrechtliche Gründe für einen Nachzug vorliegen. Von Interesse für die gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung ist ein Urteil des BVerwG von 2012 zum Ehegattennachzug zu Deutschen und der umstrittenen Nachzugsvoraussetzung der Deutschkenntnisse. Das BVerwG stellte fest, dass es Deutschen grundsätzlich nicht zuzumuten sei, die Ehe im Ausland zu führen. Sei die Ehe wegen des Deutschkenntnisse-Erfordernisses auch im Inland nicht herstellbar, so stoße das nach einem Jahr Trennung an die Grenze des nach Art. 6 Abs. 1 GG Zulässigen. Sei es bis dahin nicht gelungen, die Sprachkenntnisse nachzuweisen, müsse der Nachzug ohnedies gestattet werden.

Die Entscheidung zeigt, dass ein ganz zentraler Gesichtspunkt bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Frage ist, inwieweit für die Beteiligten anstelle des Familiennachzugs auch die Herstellung der Familieneinheit im Ausland in Betracht kommt. Das gilt zumal dann, wenn es dabei auch um Kinder geht, deren Wohl nach Art. 3 Abs. 1 der Kinderrechtekonvention stets vorrangig zu berücksichtigen ist. Bei subsidiär Schutzberechtigten kommt die Herstellung der Familieneinheit im Ausland in aller Regel nicht in Betracht. Syrien jedenfalls scheidet kriegshalber aus, und ob die Familieneinheit ausnahmsweise in einem Drittstaat hergestellt werden kann, wird ja nach der gegenwärtigen Rechtslage geprüft, für subsidiär Schutzberechtigte ebenso wie für Konventionsflüchtlinge, Art. 29 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 AufenthG. Kann die Familieneinheit nur im Inland hergestellt werden, hätte die geplante Aussetzung zur Folge, dass in Deutschland subsidiär schutzberechtigte Syrer ihr Kernfamilienleben beim besten Willen nirgends führen können. Das ist unter dem Recht auf Ehe und Familie allenfalls vorübergehend zumutbar.

Ein generell als voraussichtlich vorübergehend einstufbarer Aufenthalt ist aber der subsidiäre Schutzstatus nicht. Die Aufenthaltsdauer hängt bei Bürgerkriegsflüchtlingen von den Entwicklungen im Heimatland ab. Subsidiär Schutzberechtigte erhalten – im Unterschied zu Konventionsflüchtlingen, die gleich einen Titel von dreijähriger Dauer erhalten – zunächst eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr, die um weitere zwei Jahre verlängert werden kann und muss, solange sich die Lage im Heimatland nicht entspannt hat. Dass bei solchen Titeln nicht generell von einer fehlenden Bleibeperspektive ausgegangen werden kann, hat das BVerfG im Zusammenhang mit dem Bezug von Familienförderleistungen festgestellt.

Nach allem haben die Betroffenen Anspruch auf eine Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung der Situation im Heimatland und – hier greift die oben im Zusammenhang mit der Massenzustrom-Richtlinie erwähnte Wertung ein – der Situation der zurückgelassenen Angehörigen. Wenn der Wegfall des Schutzzwecks nicht absehbar ist und die Zusammenführung in einem Drittstaat nicht in Betracht kommt, wird das regelmäßig auf die Pflicht hinauslaufen, ihnen den Nachzug zu gestatten, zumal dann, wenn die Angehörigen ihrerseits schutzbedürftig sind. Angesichts dessen sollte man das mit der Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär schutzberechtigte Syrer nochmals überdenken. Es wäre menschenrechtlich problematisch, integrationspolitisch unklug und hätte flüchtlingspolitisch zur Folge, dass Syrer die mangels legaler Wege nach Europa teilweise lebensgefährliche Flucht zusammen mit Partnern und Kindern antreten müssen, statt wenigstens für die schwächeren unter den Kernfamilienmitgliedern einen der wenigen noch bestehenden, legalen Zugangswege nutzen zu können.

 

Dieser Beitrag ist auch auf dem Verfassungsblog erschienen.

 

Photo Credits:

(c) ekvidi

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