Flüchtlingslager A.D.?

Zum Beharrungsvermögen einer humanitären Technologie

Flüchtlingslager sind weltweit die häufigste Form, Flüchtlinge unterzubringen und zu verwalten. Aufgrund zunehmender Kritik beschloss das Flüchtlingswerk der UNO 2014 eine strategische Kehrtwende: Flüchtlingslager sollen nun vermieden werden, bevorzugt werden soll die lokale Integration und die Stärkung von Mobilität. Zugleich werden jedoch immer wieder neue Flüchtlingslager gebaut. Skizze eines Paradoxon in Kamerun.

 

Kenzou, Kamerun, 19. Dezember 2014. Drei Tage hat Mahamat Souleymanou [fiktiver Name] gewartet. Stundenlang stand er heute wieder auf dem Fußballplatz in Kenzu in der Schlange. Kurz vor dem Abend erhält der 37-jährige nun aus den Händen eines Mitarbeiters des UNO-Flüchtlingswerks (UNHCR) einen DIN-A4-Zettel − sein Flüchtlingsdokument − und eine kleine Lebensmittelkarte. Er, seine Frau und ihre fünf Kinder erlangen somit offiziell den Flüchtlingsstatus. Wie mehr als 200.000 registrierte zentralafrikanische Flüchtlinge in Kamerun können sie dank dieser Dokumente den juristischen Schutz des UNO-Flüchtlingswerks und die humanitäre Hilfe der Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Anspruch nehmen. Erleichtert bedankt sich Mahamat Souleymanou bei dem UNO-Mitarbeiter, dann nimmt er sich die Zeit, mir seine Situation zu schildern. Am Ende unseres Gesprächs stellt er eine Frage: Wie sähen die Jobmöglichkeiten im Flüchtlingslager aus? Er bittet mich um einen Rat: Soll er jetzt mit seiner Familie ins Flüchtlingslager ziehen oder besser in der Stadt bleiben? Ob ich über die Lebenssituation in Lolo, der nächsten Zeltsiedlung, Bescheid wüsste?

Die ersten Flüchtlingslager in Kamerun wurden im Frühjahr 2014 in der Ostregion gebaut, als jeden Tag mehrere Tausende Flüchtlinge die Grenze überschritten. Die Grenzstadt Kenzou war einer der Anlaufpunkte für die fliehenden Familien aus Zentralafrika, die dem Bürgerkriegs in der zentralafrikanischen Republik mit den Massakern der Anti-Balaka entkamen. Auf dem Fußballfeld übernachteten tausende Menschen. Einige waren mit privaten PKW oder Motorrad gekommen, andere hatten die Fahrt aus ihrer Heimat auf den Sattelaufliegern von LKWs verbracht. Viele hatten mehre Kilometer zu Fuß hinter sich. Für die Flucht hatten die Flüchtlinge hohe Summen bezahlt ­– die zentralafrikanischen Rebellen verlangten ein Kopfgeld für jedes gerettete Kind­, und die Zollbeamten verlangten Schmiergelder für die Überschreitung der Grenze.

UNHCR-Mitarbeiter begannen die Registrierungsarbeit unter freiem Himmel. Die Leute warteten mehrere Tage mal in der Hitze, mal im Tropenregen, dann bekamen sie Papiere und mussten auf ihren Transfer zu einem der neu errichteten Flüchtlingslager warten. Bulldozer durchlöcherten den Regenwald, das Flüchtlingswerk baute Zelte und das Rote Kreuz verteilte Nahrungsmittel. Die Anzahl der neu eingetroffenen Flüchtlinge ist mittlerweile gesunken, doch es werden immer noch neue Flüchtlinge registriert. Einige sind in den letzten Wochen gekommen. Andere, wie Souleymanou, sind schon seit mehreren Monaten da, warteten jedoch seither auf die Registrierung durch UNO-Mitarbeiter.

Nach der Registrierung kann sich Souleymanou aussuchen, ob er in Kenzou bleiben will, oder ins Flüchtlingslager möchte. Zwar kenne er Leute in den Lagern, er habe sogar Familienmitglieder dort, jedoch habe er Zweifel daran, ob er dort eine Arbeit finden könne, sagt er. Hier in Kenzou arbeitet er in einem kleinen Kaffeeausschank. An manchen Tagen verdient er 1000 CFA (1,50 Euro), an anderen Tagen ein bisschen mehr, manchmal auch gar nichts. Wie sähe es im Flüchtlingslager aus? Er habe gehört, dass die Leute im Lager oft krank seien, dass Epidemien sich verbreiten würden. Außerdem gebe es Gerüchte, dass die zentralafrikanischen Milizen planen, die Flüchtlingslager zu plündern. Ob ich etwas davon wüsste?

Souleymanou steht nicht allein mit seinen Bedenken über Flüchtlingslager. Auch in der Forschung stehen Flüchtlingslager unter Verdacht, die ohnehin schon schwierige Situation von Flüchtlingen zu verschlechtern. Bereits in den 1980ern wies die britische Anthropologin Barbara Harrell-Bond prominent auf die Nachteile von Flüchtlingssiedlungen hin: Zwar besitze die Gruppierung von Flüchtlingen in Camps aus der Sicht von Nichtregierungsorganisationen logistische Vorteile für die Versorgung mit Hilfsgütern, doch gleichzeitig erhöhten sie die Abhängigkeit von Hilfsrezipienten (Harrell-Bond 1986). Camp-Bewohner seien anfällig für unzureichende Nahrungsmittelversorgung, Cholera-Epidemien oder auch mögliche Attacken von Milizen. In den 1990er hat sich die Kritik der Flüchtlingslager angesichts der katastrophalen Lebensbedingungen der in Kivu in der Demokratischen Republik Kongo unterbrachten Ruander noch verschärft (Van Damme 1995, Terry 2002). Heute werden Flüchtlingslager in der Fachliteratur nicht selten als Disziplinierungsanstalten beschrieben und mit Gefängnissen oder sogar mit Konzentrationslagern in Zusammenhang gebracht (Agier 2008, Jaji 2011).

Die negativen Nebeneffekte von Flüchtlingslagern auf Sicherheit und Epidemiologie sind nicht nur in der Forschung bekannt. UN-Agenturen und NROs sind sich mittlerweile der Schattenseiten dieser Einrichtungen bewusst. Im vergangenen Jahr (2014) konnten sich die Camp-Skeptiker innerhalb des UNHCR Gehör verschaffen, und eine radikale Wende in der Strategie der UNO-Institution durchsetzen. Mit den im Sommer vom Hohen Kommissar für Flüchtlinge unterschriebenen „Neue Richtlinien zu Alternativen zu Flüchtlingslagern“ macht sich UNHCR für andere Strategien wie lokale Integration oder Mobilität stark. Die Einrichtung neuer Flüchtlingslager soll vermieden werden.

Bis zum Strategiewechsel waren Flüchtlingslager “die weltweit vorherrschende Form, in der Flüchtlinge untergebracht, administriert und versorgt werden” und sind es noch heute der Fall: Von den rund 51 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht lebt gegenwärtig mindestens ein Viertel der 11 Millionen Flüchtlinge in einem Flüchtlingslager. In den aktuell drei größten Krisenregionen auf der Welt – Südsudan, Syrien und Zentralafrika – wurden neue Flüchtlingslager errichtet.

Kamerun steht paradigmatisch für dieses Paradoxon. 2014 wurden Flüchtlingslager in Borgop, Gado, Ngam, Timangolo Lolo und Mbilé geöffnet. Bis dahin hatte es in Ostkamerun auch relativ gut ohne Lager funktioniert. Schon seit 2006 gab es Tausende von Flüchtlingen aus Zentralafrika. Fast jedes Jahr kamen neue dazu; Ende 2013 waren es knapp 100.000, die offiziell als Flüchtlings anerkannt wurden. Einige lebten in Städten, die meisten wohnten verstreut auf dem Land, in kleinen Dörfern, bauten sich Häuser und Lehmhütten, die denen der Einheimischen sehr ähnelten. Da die meisten zentralafrikanischen Flüchtlinge Fulfulde und Französisch sprechen, können sie mit der lokalen Bevölkerung einwandfrei kommunizieren. Ende 2013 sprach die internationale Gemeinschaft von der erfolgreichen „Integration“ der Flüchtlinge und von der bevorstehenden „dörflichen Entwicklung“. Ostkamerun war ein Musterbeispiel für Flüchtlingshilfe abseits von Lagerbebauung.

Anfang 2014 änderte jedoch die kamerunische Regierung ihre Einstellung. Innerhalb von wenigen Monaten verdoppelte sich die Anzahl der Flüchtlinge aus Zentralafrika, kurz darauf kamen auch Nigerianer, die vor den Taten der Boko Haram fliehen mussten. Die Regierung in Yaoundé zeigte sich über die neue „Welle“ von Flüchtlingen „besorgt“. Den zentralafrikanischen Konflikt wollte die kamerunische Regierung eindämmen, und die ausländische Bevölkerung im Land besser kontrollieren. Auch die Hilfsorganisationen waren überfordert. Anders als die Nachbachländer hatte Kamerun bisher keine akute Krise dieses Maßstabs gekannt und somit kaum Erfahrung mit Soforthilfe. Die in Kamerun arbeitenden Hilfsorganisationen waren auf Entwicklungsprojekte ausgerichtet, und nicht auf Nothilfe vorbereitet. Die Umgruppierung der Flüchtlinge setzte sich als der kleinste Übel durch. Die Regierung konnte die Bewegung der Flüchtlinge kontrollieren, und die Hilfsakteure schneller mit der Nahrungshilfe anfangen. Der UNHCR vermittelte zwischen den Akteuren, sorgte für die Lagerlogistik und die modische Terminologie. Offiziell wurden die Lager nicht als „camps“ (Lager) bezeichnet – das Wort erweckt mittlerweile allzu böse Assoziationen −, sondern euphemisierend „sites“ (Standorte) genannt. Im Alltag verwenden Flüchtlinge und NRO-Mitarbeiter aber weiterhin den alten Begriff.

Die „sites“ in Ostkamerun sind relativ übersichtige Zeltstädte mit zwischen 5.000 und 20.000 Einwohnern. Anders als in vielen Flüchtlingslagern werden die Ein- und Ausgänge in den kamerunischen „sites“ wenig kontrolliert. Flüchtlinge können sich auch jenseits des Lagers frei bewegen, um die Zeltsiedlungen herum gibt es weder Zäune noch Barrieren. Auch hat man es in Ostkamerun – anders etwa als in Nordkenia oder im Chad − nicht mit isolierten Flüchtlingslagern in der Wüste zu tun. Hier liegen Nachbachdörfer nah und Zirkulation ist möglich. De facto wird die Mobilität der Lagerbewohner jedoch stark eingegrenzt. Wie für die Einmischen erschwert die politische Topographie der Region die Zirkulation. Ostkamerun hat mit 110.000 km2 die Fläche von Baden-Württemberg plus Bayern, mit 7 Einwohnern pro km2 die Bevölkerungsdichte von Russland, und mit fast ausschließlich Routen aus Laterit das Straßennetz von Kongo. Es gibt um die Flüchtlingslager keine asphaltierte Straßen, wenige Verkehrsmittel, und die Übergänge der vielen polizeilichen ‚Checkpoints‘ kosten nicht wenig Schmiergeld. Das „site“ Lolo liegt zwar nur 46 km von der Grenze entfernt, doch die Fahrt kann einen halben Tag in Anspruch nehmen – und kostet auf Grund der mehreren Checkpoints das Vielfache eines Tageslohns, der Flüchtlingen wie Souleymanou zur Verfügung steht.

UNHCR-Site Lolo, Kamerun, Dezember 2014. (Foto (c) Joël Glasman)

Die Hilfsorganisationen sind sich über die negativen Nebeneffekte der Flüchtlingslager bewusst. Doch bisher scheinen die „sites“ für Viele immer noch die beste Möglichkeit, um Notbedürftige zu erreichen. Fast alle Hilfsakteure (UNHCR, ECHO, USAID, das Rote Kreuz, ACF, AHA, usw.) konzentrieren sich auf diese Stützpunkte. Die meisten NGOs haben nicht die nötigen logistischen Mittel, um eigenständig Hilfsleistungen außerhalb der Lager zu betreiben. Dazu kommt, dass die größten Geldgeber eher bereit sind, Hilfsprojekte finanziell zu unterstützen, die im Rahmen der gut verorteten „sites“ stattfinden. Es soll sich im nächsten Jahr ändern, hört man. Doch bisher finden immer noch die meisten Hilfsleistungen in den „sites“ statt.

Um auf die Frage von Mahamat Souleymanou zu antworten, ob sich ein Transfer nach Lolo lohnt, muss ich erwidern, dass ich es nicht beurteilen kann. Jobmöglichkeiten gibt es in den „sites“ sicherlich weniger als in der Grenzstadt. Dafür gibt es Hilfsorganisationen, die Nahrungsmittel und medizinische Versorgung anbieten, sowie Workshops für Jugendliche, Frauen und Arbeitssuchende. Flüchtlingsfamilien entscheiden sich nicht selten für differenzierte Strategien: Ein Teil der Familie – oft die Mutter, die Älteren und die Kleinkinder − bleibt im Flüchtlingslager, der andere – meist der Mann und die älteren Kinder − in der Stadt und im Umland nach Arbeit suchen. Mahamat Souleymanou überlegt es sich und lädt mich auf einen Kaffee ein.

Zurück nach Zentralafrika zu gehen, ist jedenfalls noch keine Option. Ende November versuchte es ein Flüchtling der Stadt Gbiti. Er überquerte den kleinen Fluss auf einem Floss, der die Grenze zwischen Kamerun und der Zentralafrikanischen Republik markiert. Die zentralafrikanische Miliz köpfte ihn und schickte seinen Kopf auf dem Floss zurück zur kamerunischen Seite. Für alle Flüchtlinge ein klares Signal.

 

Literatur

Agier, M., Gérer les indésirables. Des camps de réfugiés au gouvernement humanitaire (Paris, 2008).

Harrell-Bond, B., Imposing aid. Emergency assistance to refugees (Oxford, 1986).

Inhetveen, K., Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers. Akteure – Macht – Organisation; eine Ethnographie im südlichen Afrika (Bielefeld, 2010).

Jaji, R., Social Technology and Refugee Encampment in Kenya, Journal of Refugee Studies, 25(2), 2011, 221−238.

Terry, F., Condemned to repeat? The paradox of humanitarian action (Cornell University Press, Ithaca, 2002).

Van Damme, W., Do Refugees Belong in Camps? Experiences from Goma and Guinea, Lancet, 346, 1995, 360−362.

 

Photo Credits:

(c) Joel Glasman / December 2014

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