Folter als Geschäftsmodell

Eine neue Form des Menschenhandels auf Fluchtrouten

In den vergangenen Jahren erhält Menschenhandel zunehmende Aufmerksamkeit in politischen wie wissenschaftlichen Debatten zu Flucht und Flüchtlingen. Dies hängt vor allem mit der steigenden Zahl von MigrantInnen zusammen, die aus ihren Heimatländern durch Regionen mit prekärer Sicherheitslage fliehen und auf ihrer Route Opfer von ökonomischer Ausbeutung und Gewaltverbrechen werden. Bislang fand Menschenhandel meist in Form von illegaler Ausbeutung durch Arbeitszwang, Prostitution oder Organhandel statt. Aktuelle Entwicklungen zeigen jedoch, dass sich auf Fluchtrouten eine neue Form des Menschenhandels etabliert, bei der systematische Folter und Gewalt als Mittel zur Erpressung von Lösegeld genutzt werden. Für dieses Geschäftsmodell spielt die transnationale Vernetzung von MigrantInnen eine zentrale Rolle.

 

Die internationale Definition von Menschenhandel

Menschenhandel wurde von den Vereinten Nationen im sogenannten Palermo-Protokoll von 2000 definiert und bezeichnet demnach die Ausbeutung einer Person gegen ihren Willen. Die Form der Ausbeutung umfasst „mindestens die Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen“. Der Begriff des Menschenhandels verweist somit auf ein breites Spektrum illegaler Praktiken, die auf nationaler wie auch transnationaler Ebene stattfinden können und zunehmend als ein globales Problem erkannt werden.

Der Zusammenhang von Flucht und Menschenhandel ist dabei nicht neu. WissenschaftlerInnen und internationale Organisationen weisen darauf hin, dass gerade irreguläre MigrantInnen besonders häufig von gewaltsamer Ausbeutung betroffen sein können. Neuartig ist jedoch eine Form des Menschenhandels, die erstmals 2008 auf der ägyptischen Halbinsel Sinai in größerem Ausmaß bekannt wurde. Van Reisen und Rijken bezeichnen sie als eine „spezifische und bis dahin unbekannte Form des Menschenhandels“, bei der es primär um das Ziel der Lösegelderpressung geht, was durch die Anwendung von Folter und Gewalt verfolgt wird.

 

Der Fall des Menschenhandels auf dem Sinai

Beim Menschenhandels auf dem Sinai wurden zwischen 2009 und 2014 schätzungsweise 25.000 bis 30.000 MigrantInnen, von denen die Mehrzahl aus Eritrea kam, verschleppt und in sogenannten Foltercamps festgehalten. Um ihre Angehörigen zur Zahlung hoher Lösegeldsummen zu zwingen, wurden die Geiseln schwer misshandelt und dazu genötigt, per Mobiltelefon ihre Familien im Ausland zu kontaktieren und dadurch Geldbeträge von rund 25.000 US-Dollar für ihre Freilassung zu sammeln.

Der für den Menschenhandel charakteristische Aspekt der Ausbeutung fand somit nicht wie bis dato bekannt als Arbeitszwang, Prostitution oder Organhandel statt; der primäre Zweck der Entführungen lag vielmehr in der Profitgewinnung durch Lösegeld. Dazu wurden transnationale Netzwerke von MigrantInnen genutzt, die häufig über Verbindungen zu Familien- und Diasporakontakten in zahlreichen Ländern verfügen, um Geldtransfers aus aller Welt zu mobilisieren. So waren EritreerInnen weltweit – darunter auch in Deutschland, den USA und Saudi-Arabien – von Anrufen aus den Foltercamps betroffen. Die Anwendung extrem grausamer Foltermethoden wie Verbrennungen und Abtrennung von Körperteilen, Elektroschocks und schwerer sexueller Missbrauch, die auch Frauen und Kinder trafen, diente in erster Linie der Maximierung des Zahlungsdrucks für die Angehörigen.

 

Das Netzwerk hinter der Gewalt

Organisiert und durchgeführt wurde der Menschenhandel von Beduinen auf dem Sinai, die dort die Foltercamps betrieben, sowie einem transnational agierenden Netzwerk aus kriminellen Gruppen, die Transport, Geldtransfer und Entführungen der Geiseln von Eritrea bis nach Israel regelten. Die Gewaltakteure nutzten das Machtvakuum auf der ägyptischen Halbinsel nahe der israelischen Grenze und Gaza, das sich durch die politischen Unruhen in Ägypten noch verstärkte, um den Menschenhandel über Jahre hinweg ohne strafrechtliche Verfolgung durchzuführen. Doch nicht nur in Ägypten, sondern auch in Eritrea und im Sudan, wo häufig die Entführungen der MigrantInnen stattfanden, mangelte es an konsequenten Investigationen der Verbrechen. Stattdessen weist Human Rights Watch auf zahlreiche Fälle von Kollaborationen zwischen Staatsoffizieren und Menschenhändlern in den Ländern hin. Erst Ende 2014 wurde der Menschenhandel als eine Folge der verstärkten Militäroperationen gegen Terrornetzwerke auf dem Sinai eingedämmt.

Während fehlende Rechtsstaatlichkeit und eine Kultur der Straflosigkeit in der Region gemeinhin als Gründe für den ausbleibenden Schutz der Opfer des Menschenhandels angeführt werden, fehlte es darüber hinaus an internationalem Druck auf die Länder, um strafrechtliche Maßnahmen gegen die Verbrechen durchzusetzen. Dabei ist die Zurückhaltung der internationalen Gemeinschaft nicht nur auf die brisanten politischen Situationen in den Ländern zurückzuführen, die Interventionen von Externen erschwerten, sondern auch auf die geringe öffentliche Beachtung des Falls. Obwohl die Entwicklungen auf dem Sinai vereinzelt von westlichen Medien aufgegriffen und in wissenschaftlichen Studien untersucht wurde, bleibt der Fall trotz des massiven Gewaltausmaßes und der hohen Opferzahlen bis heute relativ unbekannt. Es handelt sich aber nach Aussagen eines Sprechers der Vereinten Nationen gar um „eine der am wenigsten bekannten humanitären Krisen der Welt“.

 

Ein neues Geschäftsmodell auf Fluchtrouten

Indes weist vieles darauf hin, dass das Phänomen von Menschenhandel zur Lösegelderpressung durch die Anwendung von Folter mittlerweile in anderen Regionen fortgeführt wird und sich zu einem neuen Geschäftsmodell auf Fluchtrouten entwickelt. NGOs und WissenschaftlerInnen berichten über Fälle systematischer Misshandlungen im Jemen, in Libyen und im Sudan, wo MigrantInnen ebenfalls unter Zufügung schwerer Gewalt festgehalten werden, bis ihre Angehörigen Geld für ihre Freilassung zahlen. Zwar ist das Auftreten von Menschenhandel auf Migrationsrouten keineswegs neu; Entführungen zur ökonomischen Ausbeutung von Personen finden seit Jahren nicht nur in Afrika, sondern auch in Lateinamerika, Südostasien oder Südeuropa statt. Bislang wurden MigrantInnen jedoch in der Regel verschleppt, um sie zur Prostitution und Zwangsarbeit zu nötigen oder ihre Organe zu verkaufen.

Das Phänomen von Menschenhandel zum primären Zweck der Lösegelderpressung (englisch: trafficking in persons for ransom) war hingegen vor dem Fall des Sinai nach Aussagen von WissenschaftlerInnen in solch systematischem Ausmaß nicht bekannt. Ausbeutung durch Lösegelderpressung fehlt deshalb auch in der internationalen Menschenhandelsdefinition des Palermo-Protokolls, die vor der Etablierung des Phänomens verabschiedet wurde.

Ermöglicht wird das Modell erst durch die Herausbildung grenzübergreifender Solidaritätsnetzwerke, die im Zusammenspiel von Globalisierungsprozessen verstärkter Migration und moderner Kommunikationstechnologien entstanden sind. Beim Menschenhandel auf dem Sinai führten sie dazu, dass sich tausende EritreerInnen aus unterschiedlichen Kontinenten an den Lösegeldzahlungen für die Geiseln beteiligten.

 

Politische Rahmenbedingungen und die Bekämpfung des Phänomens

Doch warum verbreitet sich dieses Model? Die hohe ökonomische Lukrativität, die relativ einfache Abwicklung in Regionen mit prekären Sicherheitsstrukturen und die ausbleibende internationale Aufmerksamkeit machen den Menschenhandel mit MigrantInnen zu einem attraktiven Geschäft für organisierte kriminelle Gruppen ebenso wie staatliche Akteure, die häufig in den Menschenhandel verwickelt sind. Insofern ist das Auftreten des Modells nur im Zusammenhang mit politischen Rahmenbedingungen möglich, die dazu führen, dass MigrantInnen der Gewalt bewaffneter Gruppen schutzlos ausgeliefert sind.

Es ist die Kombination aus Konfliktregionen mit fehlender Rechtsstaatlichkeit und Flüchtenden, die sich durch diese Regionen bewegen, die den Nährboden für die organisierte Ausbeutung schutzloser Menschen bietet. Paradoxerweise ermöglicht die Abwesenheit staatlicher Kontrolle einerseits den MigrantInnen die Flucht durch die rechtlosen Räume und andererseits den bewaffneten Gruppen die Ausübung von Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Flüchtenden ohne strafrechtliche Folgen. Die Schaffung legaler Fluchtwege wäre daher die nachhaltigste Möglichkeit zur Eindämmung solcher Verbrechen, weil MigrantInnen nicht länger gezwungen wären, die gefährlichen Routen durch Konfliktgebiete zu nehmen.

Bislang reagieren Staaten jedoch häufig durch verstärkte Grenzkontrollen auf Menschenhandel, obwohl empirische Studien zeigen, dass die Kriminalität auf Migrationsrouten dadurch eher verstärkt werden kann. Darüber hinaus wird Menschenhandel in politischen Diskursen oft mit illegalem Schmuggel oder Schleusung von MigrantInnen gleichgesetzt, auch wenn sich beides laut der UN Definition in dem elementaren Punkt darin unterscheidet, dass Personen bei letzterem freiwillig befördert werden, während Menschenhandel „die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen“ gegen ihren Willen bezeichnet.

Um Menschenhandel durch Lösegelderpressung auf Fluchtrouten wirksam zu bekämpfen, ist es jedoch wichtig, das komplexe Phänomen präzise zu bestimmen und von anderen illegalen Praktiken abzugrenzen. O Brhane plädiert deshalb dafür, Lösegelderpressung als Form der Ausbeutung in die internationale Menschenhandelsdefinition des UN Protokolls mit aufzunehmen, um spezifische Lösungen für das Problem zu entwickeln. Nicht zuletzt könnte sich eine Erweiterung der Konvention auch auf die nationalen Gesetzgebungen in Ländern auswirken, die von Menschenhandel und seinen Folgen betroffen sind und so den Schutz für die Opfer verbessern. In Israel leben heute beispielsweise rund 7.000 Überlebende der Foltercamps auf dem Sinai. Sie werden jedoch zum Großteil nicht als Opfer von Menschenhandel anerkannt und daher von Hilfeleistungen ausgeschlossen, weil die enge Definition im israelischen Recht ausschließlich Ausbeutung durch Arbeitszwang als Menschenhandel erfasst. Auch Staaten wie Libyen, Sudan oder Jemen, in denen Menschenhandel durch Lösegelderpressung stattfindet, verfügen in der Regel über sehr begrenzte Rechtsrahmen zur Bekämpfung von Ausbeutungspraktiken und auch die rechtstaatliche Umsetzung bestehender Gesetze ist oft prekär.

Insofern muss sich die Rechtslage in den Transitländern verbessern, Praktiken im Zusammenhang mit organisierter Lösegelderpressung kriminalisiert und entsprechende Verfolgungsmaßnahmen implementiert werden, damit Verbrechen wie diese zukünftig nicht mehr stattfinden können. Zuletzt ist es wichtig, die Überlebenden von Folter und Menschenhandel, die als Flüchtlinge nach Europa oder auch in andere Regionen kommen, zu unterstützen und sie durch die Bereitstellung spezieller medizinischer und psychosozialer Angebote vor Re-Traumatisierung zu schützen. Denn die Opfer von Gewalttaten auf dem Sinai und anderen Routen sind ihr Leben lang durch die Folgen geprägt.

 

Photo Credits:

© Lucia Heisterkamp

 

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