Parallele Leben: Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Bundesvertriebenengesetz

Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist nicht das einzige Dokument des Flüchtlingsrechts der Nachkriegszeit, das bis in die Gegenwart überdauert hat. Das 1953 erlassene westdeutsche Bundesvertriebenengesetz (BVFG) ist ein in vielerlei Hinsicht paralleler Fall von zeitlicher Ausweitung eines ursprünglich zeitgebundenen Rechtsdokuments. Anders als die GFK wurde es aber mit dem Ende des Kalten Krieges weitgehend abgewickelt. Dies bietet einen Ansatzpunkt, um über die Endlichkeit und den Reformbedarf der GFK nachzudenken.

 

Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) entstand in Folge der großen europäischen Flüchtlingskrise nach dem Zweiten Weltkrieg. In ihrer ursprünglichen Fassung erstreckte sie sich auf Personen, „die infolge von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind“ auf der Flucht seien. Sie war also eine spezifische Antwort auf einen spezifischen historischen Kontext, der durch den Zweiten Weltkrieg und den in der Folge heraufziehenden Kalten Krieg definiert war. Eine zeitliche (und räumliche) Entgrenzung erfolgte erst mit dem „Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967“. Die Konvention guckte nun nicht mehr nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft. Sie wurde universell und ist bis heute gültig.

Weniger bekannt ist die „vita parallela“ des bundesdeutschen Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge, oder kurz Bundesvertriebenengesetz (BVFG). Auch dieses Flüchtlingsrecht entstand im Kontext der großen Fluchtbewegungen am Ende des und nach dem Zweiten Weltkrieg, und auch dieses Flüchtlingsrecht wurde im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte zeitlich ausgedehnt und in die Zukunft erweitert. Es wurde so die Grundlage für die Aufnahme von über 4,5 Millionen Aussiedlern und Spätaussiedlern aus Osteuropa in der Bundesrepublik Deutschland. In diesem Beitrag möchte ich diese „parallelen Leben“ skizzieren und über die Implikationen für die GFK an ihrem siebzigsten Jahrestag reflektieren.

Die Flüchtlingssituation der Nachkriegszeit umfasste eine Vielzahl von Menschen, die aus verschiedenen Gründen im Kontext von Krieg und Verfolgung, Vertreibung und Umsiedlung ihre Heimat verloren hatten und sich großenteils im besetzten Nachkriegsdeutschland befanden. Ihre Betreuung erfolgte in einem zweigliedrigen System, aus dem einerseits das universelle, andererseits das spezifisch deutsche Flüchtlingsrecht entstanden.

Ein Teil dieser Menschen kam unter die Obhut der damals neu entstehenden internationalen Flüchtlingsorganisationen, erst der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), dann der Internationalen Flüchtlingsorganisation (IRO) – beides Vorläuferorganisationen des noch heute bestehenden Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR). Wir kennen sie unter der Bezeichnung „Displaced Persons“ (DPs). Dies waren Menschen, die von NS-Deutschland zur Zwangsarbeit oder in Konzentrationslager verschleppt worden waren, aber auch solche, die vor den in Osteuropa errichteten kommunistischen Regimen nach Westen geflohen waren. DPs waren also der Definition nach Opfer des Nationalsozialismus, die Kategorie umfasste aber zunehmend auch Opfer des Kommunismus.

Das zweite große Flüchtlingskontingent waren die mehr als zwölf Millionen Deutschen aus den an Polen und die Sowjetunion abgetretenen „Ostgebieten“ des Deutschen Reiches und „Volksdeutschen“ aus der Tschechoslowakei und anderen Ländern Ost- und Südosteuropas, die geflohen waren, gewaltsam vertrieben oder mit alliierter Zustimmung gemäß dem Potsdamer Abkommen umgesiedelt wurden. Für sie galt die Maxime: „Make the Germans do it!“ Die IRO-Verfassung von 1948 schloss „persons of German ethnic origin, whether German nationals or members of German minorities in other countries“ explizit aus ihrem Mandat aus. Die deutschen Länder schufen daher spezielle Verwaltungen und Gesetze, um die Versorgung dieser Menschen sicherzustellen. Zwar stand die „Internationalisierung“ des deutschen Flüchtlingsproblems immer wieder auf dem Wunschzettel der westdeutschen Politik, aber letztlich blieb die Integration der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen (so die übliche Sprachregelung) ein deutsches Problem.

Die Zentralisierung der verschiedenen deutschen Flüchtlingsgesetze erfolgte durch das Bundesvertriebenengesetz im Jahr 1953. Es lieferte in § 1, Abs. 1 erstmals eine einheitliche Definition des Begriffs „Vertriebener“ als jemanden, der „als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten oder in den Gebieten außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstande vom 31. Dezember 1937 hatte und diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung, insbesondere durch Ausweisung oder Flucht, verloren hat.“ Spiegelbildlich zur IRO-Konstitution, die Deutsche ausschloss, bezog sich das BVFG also explizit auf Deutsche, sowohl deutsche Staatsangehörige wie auch deutsche „Volkszugehörige“, definiert in § 6 als Personen, die sich „in [ihrer] Heimat zum deutschen Volkstum bekannt“ hatten, „sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur bestätigt“ würde.

Ähnlich wie die zwei Jahre zuvor erlassene GFK bezog sich das BVFG zunächst primär auf die Vergangenheit, auf Personen, die bereits Aufnahme im Bundesgebiet gefunden hatten. Allerdings gab es bereits ein Hintertürchen in die Zukunft: § 1 Abs. 2 Nr. 3 definierte als „Aussiedler“ Personen deutscher Staatsangehörigkeit oder Volkszugehörigkeit, die die sogenannten „Vertreibungsgebiete“ – konkret alle kommunistischen Staaten Osteuropas – erst „nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen“ verlassen hatten oder noch verlassen würden. An diesem geographischen Zuschnitt wird die antikommunistische Stoßrichtung des BVFG deutlich, die sie ebenfalls mit der GFK teilte. Hintergrund war die Tatsache, dass sogar in den Staaten des Potsdamer Abkommens manche Deutsche verblieben waren, und sich in anderen Ländern der Region, primär der Sowjetunion, Rumänien und Jugoslawien nach wie vor größere deutsche Minderheiten befanden.

Ursprünglich schien es bei dieser Regelung nur um „Nachzügler“ der Vertreibung zu gehen, etwa Angehörige von bereits in Deutschland lebenden Vertriebenen. Doch schon ab Mitte der 1950er Jahre zeichnete sich ein Wandel ab. Von 1956 bis 1959 kamen über 250.000 Aussiedler aus Polen in die Bundesrepublik, großenteils Menschen, die sich ursprünglich nach dem Krieg zur polnischen Nation bekannt hatten, sich nun aber auf ihre deutsche Herkunft besannen und emigrierten. Die Aussiedlung aus Polen hielt in geringerem Umfang auch in den 1960er Jahren an. Gleichzeitig beantragten jährlich tausende jugoslawische Staatsbürger die Anerkennung als deutsche Aussiedler, obwohl sie – wie die mit der Anerkennung befassten Behörden befanden – oft kaum noch Deutsch sprachen.

Aufgrund dieser Entwicklungen stand die bundesdeutsche Politik Mitte der 1960er Jahre vor der Entscheidung, ob die Aussiedleraufnahme in der bestehenden Form fortgesetzt werden solle. Besonders strittig war die Frage, ob die Regeln des BVFG zur „deutschen Volkszugehörigkeit“, die sich auf die Zeit vor 1945 bezogen, auch auf nachgeborene Generationen angewendet werden könnten. Auch war nicht klar, ob diese Nachkriegsgenerationen noch sinnvollerweise als „Vertriebene“ bezeichnet werden könnten.

Eine erste Regelung zur Einbeziehung der Nachgeborenen erfolgte mit der Reform des Übernahmeverfahrens für Deutsche aus Osteuropa im Jahr 1968, also kurz nach dem Zusatzprotokoll zur GFK. Das neue Verfahren wurde in der Folge durch mehrere Urteile des Bundesverwaltungsgerichts und weitere administrative Richtlinien ausgedehnt. Grundlegend war dabei die Annahme, dass auch auf den Nachgeborenen ein sogenannter „Vertreibungsdruck“ laste, da sie nach wie vor als Deutsche identifiziert und diskriminiert würden. Dieser Vertreibungsdruck war nicht individuell nachzuweisen. Wichtig war allein die Eigenschaft als Deutsche, aus der sich die Vertriebeneneigenschaft dann ableitete. Der Nachweis wurde im Laufe der Zeit zwar immer komplizierter, das BVFG kam aber trotzdem bis Anfang der 1990er Jahre ohne eine Gesetzesreform aus.

Mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs geriet das Konstrukt des BVFG unter noch stärkeren Druck. Schon in den 1980er Jahren hatte es Versuche in der Flüchtlingsverwaltung gegeben, die Annahme des allgemein herrschenden „Vertreibungsdrucks“ einzuschränken, da sich die Verhältnisse im Ostblock in vielen Fällen normalisiert hätten. Damals scheiterten diese Versuche am Widerstand der Vertriebenenverbände. Spätestens mit der Öffnung der Grenzen in Osteuropa, dem Zustrom von Hunderttausenden Aussiedlern in die Bundesrepublik und dem Ende der kommunistischen Regime in Ostmitteleuropa und schließlich in der Sowjetunion war dieser Wandel aber nicht mehr bestreitbar.

Das durch das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) reformierte BVFG von Ende 1992 trug diesen Veränderungen Rechnung. Vertreibungsdruck wurde jetzt nur noch bei Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion automatisch angenommen, alle anderen mussten ihn individuell nachweisen. Auch kann eine Person nicht mehr Spätaussiedler – so die offizielle Bezeichnung nach der Gesetzesreform – werden, die nach dem Jahr 1992 geboren ist. Das BVFG besteht zwar fort, seinen wesentlichen Zweck hat es aber erfüllt. Die historische Periode der Nachkriegszeit ist abgeschlossen.

In einer vergleichenden Längsschnittperspektive hatten internationales und deutsches Flüchtlingsrecht also durchaus parallele Karrieren in den Nachkriegsjahrzehnten. Beide wurden zur Grundlage von Migrationen durch eigentlich geschlossene Grenzen. Beide durchliefen Prozesse der zeitlichen Entgrenzung und entfernten sich dabei von ihrem ursprünglichen Bezug auf die Bewältigung von Zwangsmigrationen im Kontext des Zweiten Weltkriegs. Im Falle des BVFG war dieser Vergangenheitsbezug aber letztlich doch so stark, dass es nach dem Ende des Kalten Krieges weitgehend abgewickelt wurde. Seine Kategorien und Definitionen passten nicht mehr in die neue Zeit.

Diese Beobachtung bietet einen allgemeinen Ansatzpunkt, um über die Zeitgebundenheit und Endlichkeit dieser Dokumente nachzudenken. Die Angemessenheit der Definitionen des BVFG wurde im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte immer wieder in Frage gestellt. Spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges wurde die Kategorie eines unter Vertreibungsdruck leidenden deutschen Volkszugehörigen weitgehend obsolet. Ähnliche Überlegungen gibt es auch zur Definition eines Flüchtlings in der GFK, die auf Verfolgung einer Person „wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ abstellt. Aus dem Zeitkontext ergab dieser spezifische Zuschnitt Sinn. Für die Herausforderungen der Gegenwart mit ihren multiplen Fluchtursachen, nicht zuletzt in Folge von Kriegen, Umweltkatastrophen aber auch allgemeiner Perspektivlosigkeit in „failed states“, ist er aber zu eng. Der siebzigste Jahrestag der GFK ist ein guter Zeitpunkt, dieses Dokument zu historisieren und vor dem Hintergrund seiner Zeitgebundenheit zu überdenken.

 

Dieser Beitrag ist auch auf Englisch erschienen und ist Teil der Reihe „70 Jahre UNHCR und Genfer Flüchtlingskonvention: Globale Entwicklungen“, die gemeinsam durch den Völkerrechtsblog  und den FluchtforschungsBlog herausgegeben wird.

 

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