Verweisung Asylsuchender auf Ghettos in Drittstaaten?

Zu den aktuellen Reformideen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) gehört bekanntlich, die Verweisung Asylsuchender auf außereuropäische „Migrationspartnerstaaten“ zu forcieren, auf der Basis von Absprachen ähnlich der EU/Türkei-Absprache vom März 2016. Die in der Asylverfahrensrichtlinie geregelten Anforderungen an solche Wegverweisungs-Zielstaaten sollen in der anvisierten Asylverfahrensverordnung gesenkt werden: Es soll nicht mehr der Standard der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) verbindlich sein, sondern eine Art Subsistenzsicherung genügen. Die Nutzung der Wegverweisungskonzepte wird unter Umständen auch nicht mehr optional, sondern zwingend ausgestaltet. Neu ist außerdem die Idee des territorialen Teilschutzes: Für die Verweisung Asylsuchender auf außereuropäische Asylstaaten soll es ausreichen, wenn die nötigen Bedingungen nur in einem Teilgebiet ihres Territoriums erfüllt sind, Art. 45 1a. Demnach wäre es etwa möglich, Schutzsuchende einem instabilen Drittstaat zwangszuzuordnen, in dem eine Zone von der Größe eines Flüchtlingslagers unter Kontrolle gebracht wurde, und die Schutzsuchenden in dieser Zone subsistenzgesichert zu ghettoisieren. Dieser Beitrag dient dazu, die flüchtlingsrechtliche Zulässigkeit der Verweisung auf territorialen Teilschutz in Drittstaaten in Frage zu stellen und hierzu eine Debatte anzuregen.

Die GFK enthält abgesehen vom Refoulement-Verbot keine explizite Aussage zu Verweisungen auf alternative Schutzstaaten und deren zielstaatsbezogenen Voraussetzungen. Daraus folgt nicht, dass sich aus der GFK keine über den (Ketten)Refoulement-Schutz hinausgehenden Anforderungen an den Zielstaat ableiten ließen. Wenn die Vertragsstaaten, statt Schutzsuchenden die jeweils anwendbaren Statusrechte der GFK selbst zukommen zu lassen, ungeschriebene Wegverweisungspraktiken entwickeln, müssen sie das, wie sich aus Art. 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) ergibt, nach Treu und Glauben und mit Rücksicht auf den Gesamtzusammenhang einschl. Präambel sowie Ziel und Zweck der GFK tun.

Die GFK-Statusrechte, die neben der Flüchtlingsdefinition ihren Hauptinhalt bilden, sind darauf angelegt, dass Flüchtlinge im Aufnahmestaat mit zunehmender Dauer und Verfestigung ihres Aufenthalts zunehmend inkludiert werden. Die GFK zielt also neben dem Verfolgungsschutz auf Abhilfe für eine weitere prekäre Situation, mit der Flüchtlinge konfrontiert sind: die Situation der Schwebe („in orbit“), in der man sich befindet, wenn man nirgends einen Ort hat, an dem man dazugehört und die ortsüblichen Rechte hat. Mit den Statusrechten will die GFK Flüchtlinge einer selbständigen, sozial eingebundenen und produktiven Lebenslage zuzuführen, statt sie in abgesonderter, abhängig subsistenzgesicherter Lage zu einer dauerhaften Last für sich und andere werden zu lassen. Aus diesem Ziel heraus regelt sie im Wesentlichen Gleichbehandlungsrechte: Flüchtlinge sollen im Aufnahmestaat mit zunehmender Dauer und Verfestigung ihres Aufenthalts zunehmend „wie die Anderen“ stehen, wobei die Bezugsgruppe je nach Statusrecht differiert (von wie andere Ausländer bis wie Staatsangehörige).

Dieses Ziel könnte nicht praktisch wirksam werden, dürften die Vertragsstaaten Schutzsuchende auch an Drittstaaten verweisen, die ein Inklusionssystem entsprechend der GFK nicht gewährleisten. Allerdings ist der Aufnahmestaat regelmäßig nicht verpflichtet, Schutzsuchenden von Anfang an alle Statusrechte zu gewähren, vielmehr hängt das Ausmaß der Rechtegewährung vom Aufenthaltsstatus und dessen Verfestigung ab. Der Aufenthaltsverfestigungsgrad darf im nationalen Recht jedoch nicht etwa beliebig definiert werden. Ein Staat, der Asylsuchenden die Regularisierung verweigert und ihnen dadurch dauerhaft die jenseits der Stufe der „faktischen Präsenz“ entstehenden Rechte vorenthält, umgeht seine Verpflichtungen aus der GFK (Rn. 168). Die Stufe des „legalen Aufenthalts“, mit u.a. Arbeitsmarkt-, Wohnungswesen- und Sozialleistungszugang, tritt üblicherweise mit positivem Abschluss des Statusklärungsverfahrens ein. Dass der wegverwiesene Schutzsuchende im Zielstaat den Status „legaler Aufenthalt“ bekommen muss, ist in der geplanten Asylverfahrensverordnung auch vorgesehen, Art. 44 1a (b) (ii).

Eine Zwangszuordnungspraxis, bei der die Betroffenen im Zielstaat auch bei längerfristigem Aufenthalt nicht „wie die Anderen“ existieren können, wäre damit nicht vereinbar. Daraus folgt eine differenzierte Antwort auf die Frage nach der Eignung von Zielstaaten, die nur in Teilen ihres Territoriums die nötigen Bedingungen gewährleisten können. Es kommt erstens darauf an, ob die Bedingungen im tauglichen Teil des Territoriums nicht nur gewährleistet, sondern auch hinreichend stabil gewährleistet sind – was sich bei Staaten, die nur Teile ihres Territoriums unter Kontrolle haben, nicht von selbst versteht. Zweitens darf die Verweisung der Betroffenen auf das Teilterritorium nicht dazu führen, dass diese ghettoisiert oder auch nur in dem Sinne exkludiert werden, dass sie entgegen der Intention der GFK schlechter als „die Anderen“ stehen. Denn die GFK will Flüchtlinge auch in Bezug auf die Verfügbarkeit des ganzen Staatsgebietes inkludieren, mit der Bezugsgruppe „wie andere Ausländer unter denselben Umständen“ und bereits ab der (unterhalb des „legalen Aufenthalts“ liegenden) Verfestigungsstufe der „legalen Präsenz“, Art. 26 GFK.

Zulässig wäre demnach etwa die Verweisung auf einen im Übrigen stabilen Staat mit de facto autonomen Gebieten, wie z.B. Georgien mit Abchasien: Dass der georgische Staat mangels Beherrschung Abchasiens Flüchtlingen den Zugang nach und die erforderlichen Bedingungen im abchasischen Teil seines Territoriums nicht garantieren kann, ist unschädlich, weil „die Anderen“ insoweit ebenfalls ausgegrenzt sind. Ganz anders wäre die o.g. Situation der Ghettoisierung in einer Schutzzone zu beurteilen. Ein mit der GFK vereinbares Konzept territorialen Teilschutzes in Zwangszuordnungszielstaaten müsste also ausreichend differenzieren. In der im Rat anvisierten, undifferenzierten Form ist es mit der GFK nicht vereinbar.

Ergibt sich etwas anderes aus dem Konzept der internen Fluchtalternative (IPA), das in der GFK – anders als in der QRL, Art. 8 – zwar ebenfalls nicht explizit geregelt, aber in der Praxis weithin anerkannt ist? Nach diesem Konzept können Menschen, die in ihrer Heimatregion verfolgt werden, ggf. darauf verwiesen werden, in andere, verfolgungssichere Regionen ihres Heimatstaates zurückzukehren, statt internationalen Schutz in Anspruch zu nehmen. Begründet wird die IPA-Praxis mit Hinweis auf die Subsidiarität des internationalen Schutzes gegenüber Schutzmöglichkeiten im Heimatstaat bzw. aus der Flüchtlingsdefinition selbst, wonach Flüchtling nur ist, wer keinen Schutz in seinem Heimatstaat erlangen kann. Es handelt sich also um eine Figur, die sich aus der vorrangigen Verantwortung des Heimatstaates herleitet: Der Schutzsuchende muss sich auf einen sicheren IPA-Schutzort verweisen lassen, weil es angesichts seiner Zugehörigkeit zum Heimatstaat und dessen primärer Schutzverantwortung nicht gerechtfertigt wäre, stattdessen den Schutz anderer Staaten in Anspruch zu nehmen.

Diese Rechtfertigung ist auf Verweisungen an Drittstaaten nicht übertragbar. Dort gibt es das die IPA kennzeichnende, originäre Verantwortungsgefälle zwischen dem Heimatstaat und anderen Staaten nicht. Es ist der laut Flüchtlingsdefinition vorrangig im Heimatstaat zu suchende Schutz, der die IPA-Verweisung rechtfertigt. Der Antragsstaat ist im Verhältnis zum Heimatstaat nur subsidiär verantwortlich, nicht im Verhältnis zu anderen Schutzstaaten. Besteht keine Schutzoption im Heimatstaat, muss der Schutzsuchende internationalen Schutz in Anspruch nehmen. In der dann gegebenen, grundsätzlich rangfreien Verteilungssituation ist keine Rechtfertigung dafür ersichtlich, Schutzsuchenden die Verweisung auf einen territorial limitierten Schutz zuzumuten, nur um dem Antragsstaat die Flüchtlingsverantwortung zu ersparen.

Zwangszuordnungen Schutzsuchender auf der Basis zwischenstaatlicher Allokationsabsprachen sind mit einer entsprechend Art. 31 WVK verstandenen GFK grundsätzlich vereinbar, aber zu dem Zweck, die kollektive Verantwortung für das Phänomen Flucht kooperativ, effizient und lastenteilig wahrzunehmen, nicht zu dem Zweck, ohne Rücksicht auf die praktische Wirksamkeit der GFK die eigene Entlastung zu betreiben.

 

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