Das dreifache Asylroulette: Föderale Ungleichheiten in der deutschen Asylpraxis

Von Gerald Schneider, Nadine Segadlo und Miriam Leue

 

Vor drei Jahren identifizierten wir beunruhigende föderale Ungleichheiten bei den Entscheidungen des BAMF über Asylanträge. Unsere weitergehenden Forschungen zeigen nun, dass sich die großen Abweichungen 2017 fortsetzten. Zudem entscheiden sowohl die Verwaltungsgerichte bei der Beurteilung der Rekurse als auch die Ausländerbehörden bei den Abschiebungen im Vergleich der Bundesländer höchst unterschiedlich. Eine detailliertere Asylstatistik wäre in unserer Sicht ein erster Schritt, um diese verstörenden Divergenzen einzudämmen.

 

Über Asylgesuche entscheiden in Deutschland primär drei Akteure. Zunächst bestimmen die über das Land verteilten Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Status der Antragstellenden. Die Bundesbehörden gewähren den Asylsuchenden ein Aufenthalts- bzw. Bleiberecht oder verfügen über die zuständige Ausländerbehörde die Ausreise. Gegen einen ablehnenden Bescheid können Gesuchstellende Klage einlegen. Eines der 52 Verwaltungsgerichte des Landes wird einen negativen Bescheid des BAMF entweder aufheben, in Teilen revidieren oder bestätigen. Danach müssen die Ausländerbehörden der einzelnen Staaten dafür sorgen, dass abgelehnte Asylbewerber und -bewerberinnen das Land verlassen. Wenn diese nicht freiwillig zurückkehren und die Lage in ihrem Heimatland als sicher eingestuft wird, können sie abgeschoben werden. Bei der Entscheidung über die Abschiebung haben die Länder einen gewissen Ermessensspielraum, da für die Durchführung die Ausländerbehörden der Länder zuständig sind – aber immer innerhalb der Grenzen, die der Bundesgesetzgeber vorgibt.

Dass die Außenstellen des BAMF höchst unterschiedlich urteilen, ist der Öffentlichkeit spätestens seit 2018 bewusst, als die positiven Entscheidungen in Bremen zugunsten von jesidischen Asylsuchenden für bundesweite Schlagzeilen sorgten. Bereits zuvor hatten Anfragen im Bundestag und ein Artikel des Lehrstuhls für Internationale Politik der Universität Konstanz gezeigt, dass die BAMF-Entscheidungen ein Potential für positive wie negative Diskriminierung schaffen, wenn man die Anerkennungsquoten nach Bundesland vergleicht. Unser neu erschienener Artikel zeigt nun, dass die nachgelagerten Entscheidungsgremien diese Unterschiede in der Beurteilung von Asylgesuchen nicht aufheben. Im Gegenteil, die räumliche Ungleichheit hört nicht auf der ersten Entscheidungsstufe auf. Asylsuchende haben je nach dem für sie zuständigen Verwaltungsgericht sehr ungleiche Chancen im Hinblick auf den Erfolg ihrer Klage gegen eine negative BAMF-Entscheidung. Und wenn die Rekurse abgewiesen sind, ist das Risiko der ehemaligen Gesuchstellenden,, abgeschoben zu werden, je nach Bundesland höchst divergent.

 

Diskriminierung auf allen Stufen

Die nachfolgende Tabelle zeigt für die Jahre, über die wir die deutsche Asylstatistik nach Bundesländern rekonstruieren konnten, wie unterschiedlich die Chancen eines Asylbewerbers bzw. einer Asylbewerberin für einen dauerhaften oder temporären Schutz in Deutschland sind. Zum Ersten bestehen allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz die Unterschiede auf der ersten Entscheidungsstufe bis 2017 weiter; unsere ursprüngliche Studie reichte nur bis 2016. So fiel die Ablehnungsquote des BAMF über die Jahre hinweg weiterhin unterschiedlich aus. Im Durchschnitt der Jahre 2010-2017 lag sie bei 40 Prozent, mit einem Hoch von 58 Prozent im Jahr 2010 und einem Tief von 22 Prozent im Jahr 2016. Zu den Bundesländern mit der höchsten durchschnittlichen Ablehnungsquote gehörten in diesem Zeitraum Berlin (46 Prozent), Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt (jeweils 45 Prozent). Am niedrigsten war die Ablehnungsquote in Bremen (34 Prozent) und im Saarland (24 Prozent).

Auch der Anteil der Rekurse, in denen die Bundesbehörden vor den Verwaltungsgerichten gegenüber den Asylsuchenden teilweise oder vollständig obsiegen, variiert in Prozent aller Entscheidungen erheblich. Die Gesamtquote der abgelehnten Klagen lag in den Jahren von 2010 bis 2017 bei 38 Prozent, wobei die höchste Quote im Jahr 2012 bei 46 Prozent und die niedrigste im Jahr 2016 bei 32 Prozent lag. Die niedrigsten Ablehnungsraten waren über diese Zeitperiode mit 19 Prozent in Hamburg und 20 Prozent in Berlin zu verzeichnen. Am häufigsten urteilten die Gerichte mit 53 Prozent in Schleswig-Holstein und 52 Prozent in Sachsen-Anhalt zugunsten der Bundesbehörde.

Ebenso deutlich sind die Unterschiede bei der Abschiebequote (d.h. dem Anteil der Abschiebungen  an allen Negativentscheidungen). Während die durchschnittliche Abschiebungsquote in den Jahren 2012-2017 bei 24 Prozent lag, betrug sie 2013 35 Prozent und 2017 14 Prozent. In Bremen lag die Abschiebequote in diesem Zeitraum bei sechs Prozent, im Saarland bei 65 Prozent. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die tatsächlichen Zahlen recht niedrig sind, da einige der abgelehnten Asylsuchenden nach Ausschöpfung der rechtlichen Möglichkeiten aus verschiedenen Gründen geduldet werden. Ein erheblicher Teil verlässt Deutschland auch freiwillig.

 

Durchschnittliche Ablehnungsquote, abgelehnte Klagen und Abschiebungsquote nach Bundesländern, 2010(2012)-2017

Bundesland Ablehnungsquote Abgelehnte Klagen Abschiebungsquote
Baden-Württemberg 0.45 0.44 0.21
Bayern 0.41 0.49 0.23
Berlin 0.46 0.20 0.19
Brandenburg 0.44 0.36 0.14
Bremen 0.34 0.29 0.06
Hamburg 0.38 0.19 0.21
Hessen 0.37 0.30 0.32
Mecklenburg-Vorpommern 0.39 0.26 0.35
Nordrhein-Westfalen 0.42 0.42 0.20
Niedersachsen 0.37 0.42 0.15
Rheinland-Pfalz 0.39 0.46 0.15
Schleswig Holstein 0.38 0.53 0.21
Saarland 0.24 0.33 0.65
Sachsen 0.44 0.41 0.32
Sachsen-Anhalt 0.45 0.52 0.22
Thüringen 0.42 0.45 0.19
Durchschnitt1 0.40 0.38 0.24

1 Die Durchschnittswerte sind nicht nach Bevölkerungsgröße der Bundesländer gewichtet.

 

Wenn wir die verschiedenen Entscheidungsstufen betrachten, verhalten sich die Bundesländer zum Teil höchst unterschiedlich. Das Saarland hat mit 24 Prozent die niedrigste Anerkennungsquote und weist mit durchschnittlich zwei Dritteln die höchste Abschiebungsquote auf. Die umgekehrte Rolle dieses kleinen Landes wird in der nachfolgenden Grafik ersichtlich, welche die zeitliche Entwicklung für die Länder mit den extremsten Jahresquoten und das dem Bundesdurchschnitt am nächsten liegende Land zeigt. Bei der Ablehnungs- und Abschiebungsquote lag dieses Durchschnittsland in Bayern, während die brandenburgischen Verwaltungsgerichte diese Rolle bei den abgelehnten Klagen einnehmen.

Dass die Unterschiede zwischen den Ländern teilweise im zweistelligen Prozentbereich oft über Jahre fortbestehen, weist auf die diskriminierende Wirkung des Asylvollzugs auf allen drei Entscheidungsebenen hin. Die Abweichungen zwischen den Ländern lassen sich so auch weder vollständig mit der wechselnden Zusammensetzung der Asylsuchenden noch organisatorischen Änderungen in den Verfahrensabläufen erklären. Fruchtbarer scheint es, die divergente Praxis durch das unterschiedliche politische und gesellschaftliche „Klima“ der Länder zu erklären, in denen die Vollzugsorgane der Asylpolitik agieren.

 

Entscheidungsverhalten über Asylanträge anhand von drei Beispiel-Bundesländern: Ablehnungsquote, abgelehnte Klagen und Abschiebungsquote

 

Parteipolitik spielt eine Rolle

Angesichts der Vielzahl der Entscheidungsfälle ist es so unmöglich, dass diese Unterschiede rein zufälliger Natur sind. Unsere theoretische Erwartung, dass die Asylentscheidungen mit Merkmalen der Bundesländer korrelieren, lässt sich bestätigen. So haben beispielsweise Länder mit einer sozialdemokratisch geführten Regierung wie Bremen geringere Abschiebequoten, und auch die Quote negativer BAMF-Entscheidungen und abgelehnter Klagen ist in Staaten wie Hamburg geringer, in denen die SPD lange an der Macht war. Wie von uns gezeigt, spielt die politische Orientierung des Umfeldes zu den Verwaltungsgerichten und der BAMF-Verantwortlichen eine Rolle.

Dass solche politischen wie auch eine Reihe ökonomischer Faktoren wie die Arbeitslosigkeit oder die Wirtschaftsentwicklung den Entscheidungsprozess beeinflussen, ist nicht hinnehmbar. Letztlich führt dies dazu, dass die Chance eines Asylsuchenden, anerkannt oder zumindest geduldet zu werden, von Zufällen abhängt bzw. dem Glück, auf gutwillige Entscheidungsbevollmächtige im „richtigen“ Bundesland bzw. der verantwortlichen Institution zu treffen.

 

Für eine Reform besteht keine ausreichende Datengrundlage

Leider ist aber kaum damit zu rechnen, dass die Politik sich der verstörenden Vielfalt in der asylpolitischen Entscheidungspraxis annimmt. So gibt es weder eine intensive Diskussion um geeignetere Indikatoren der Entscheidungspraxis noch ausreichende Datengrundlagen. Die hier vorgestellten Daten sind aus einer Vielzahl von Quellen zusammengetragen, betreffen aber nicht die eigentlichen Entscheidungsorgane, sondern die Länder, in denen diese angesiedelt sind. Dies führt aller Wahrscheinlichkeit nach zum statistischen Phänomen der „Regression zur Mitte“ und damit zu einer Unterschätzung der Unterschiede, welche die asylpolitische Praxis der verantwortlichen Institutionen kennzeichnen.

Da die öffentliche Asylstatistik nur hoch aggregiert und in wichtigen Teilen nur auf Nachfrage erhältlich ist, scheint es für parlamentarische Kontrollorgane fast unmöglich, sich ein Gesamtbild zu machen. Wünschenswert wäre es, dass zu den einzelnen BAMF-Außenstellen, den Verwaltungsgerichten sowie den Ausländerbehörden der Länder detaillierte und längerfristige Statistiken verfügbar wären. Aber es scheint fraglich, dass sich der Bundestag wie die Landtage überhaupt für solche Entscheidungsgrundlagen nachhaltig interessieren. Letztlich sind Asylsuchende ja keine Wähler.

 

Dieser Beitrag basiert auf dem Aufsatz „Forty-Eight Shades of Germany: Positive and Negative Discrimination in Federal Asylum Decision Making“, der in der Zeitschrift German Politics erschienen ist.

 

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