Rückkehr zur Flüchtlingspolitik des Kalten Krieges: Vom universalen Schutz zur Re-Politisierung?

Auf die Ankunft einer beispiellosen Anzahl an Flüchtlingen reagiert die EU mit offenen Grenzen: Allen Flüchtlingen aus der Ukraine wird ohne Asylverfahren ein temporärer Schutz geboten, einschließlich Rechten auf Grundsicherung und Zugang zum Arbeitsmarkt. Diese Entscheidung ist angesichts der Herausforderungen richtige, aber keine Kehrtwende von der „Abschottungspolitik“. Vielmehr setzt sich hier ein Trend zu einer politisierten und interessengeleiteten Flüchtlingspolitik fort, die das universale Asylrecht aushebelt und damit das liberale Fundament der EU unterminiert.

 

Die Schätzungen, wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer in der EU Schutz vor dem Krieg suchen werden, variieren stark: Zwischen 3 und 10 Millionen Flüchtlinge werden erwartet. In den ersten Tagen des Konflikts sind bereits mehrere Hunderttausend aufgenommen worden. Die Schlangen an den Grenzen sind kilometerlang. Die Zahlen werden in ihrer Höhe voraussichtlich jene der letzten großen Flüchtlingsaufnahme übersteigen, als über 3 Millionen Asylbewerberinnen und Asylbewerber im Verlauf von rund drei Jahren in der EU registriert wurden. Die aktuelle Aufnahme scheint dabei weitaus weniger kontrovers – zumal in osteuropäischen Staaten, wo eine politische und gesellschaftliche Hilfsbereitschaft hervortritt, ähnlich wie in Deutschland vor sieben Jahren.

Der Krieg in der Ukraine hat die EU in vielen Politikfeldern enger zusammengebracht und zu Paradigmenwechseln geführt, die noch vor Kurzem undenkbar schienen. Auch in der Flüchtlingspolitik ist dies zu beobachten. Doch trotz breiter Aufnahmebereitschaft scheint die Reaktion der EU auf die aktuelle Fluchtbewegung ein weiterer Nagel im Sarg des universalen Flüchtlingsrechts sein. Angesichts des hohen Schutzbedarfs wird erstmals die sogenannte „Massenzustrom-Richtlinie“ (Temporary Protection Directive, 2001/55/EG) der EU angewandt, die Geflüchteten aus der Ukraine einen Schutzstatus zuerkennt, ohne dass ein Asylverfahren durchgeführt wird. Neben dem langjährigen selektiv-beschränkten Zugang zum EU-Flüchtlingsschutz droht eine solche „prima-facie“-Anerkennung eine rechtstaatliche Flüchtlingspolitik weiter zu unterminieren.

War die Reaktion auf Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen zuletzt von Abschottung, Push-backs und Abschreckung geprägt – nicht nur, aber besonders rücksichtslos etwa an der Grenze zu Belarus – werden Geflüchtete aus der Ukraine nun in Polen, Ungarn und Slowakei mit offenen Armen empfangen. Also dort, wo die Aufnahme von Flüchtlingen bislang weitgehend abgelehnt wurde. Angesichts des Krieges und der Not in der Ukraine ist dies ein wichtiger Schritt.

Die mehr oder weniger offenen Grenzen sind jedoch keine Zäsur der europäischen Flüchtlingspolitik. Vielmehr beschleunigt die unmittelbare Aufnahmebereitschaft eine Entwicklung der Politik der letzten Jahre, die Flüchtlingsschutz zunehmend politisiert. Verschiedentlich wurde berichtet, dass Nicht-Weiße Schutzsuchende, etwa afrikanische und asiatische Studierende, die in der Ukraine gelebt haben, an den Grenzübergängen zurückgewiesen wurden. Dies verwundert nicht angesichts der langjährigen Ablehnung nicht-europäischer und nicht-christlicher Flüchtlinge in jetzt aufnehmenden Staaten.

Vielmehr beobachten wir einen Rückfall in die ideologische Flüchtlingspolitik des Kalten Krieges. Alliierte Flüchtende – damals Oppositionelle real-kommunistischer Staaten aus Osteuropa und etwa Südvietnam, heute afghanische Ortskräfte und vertriebene Ukrainer*innen – sind präferierte und die vermeintlich wahren politischen Flüchtlinge. Damals setzte in den späten 1970er Jahren durch Verschärfungen des eigentlich universalen Asylrechts der Bundesrepublik eine Abwehr nicht-europäischer Flüchtlinge und damit eine politisch erwünschte Differenzierung des Zugangs ein. Erst nach dem Ende des Kalten Krieges rückten nicht-europäische Flüchtlinge wieder in den Fokus, allerdings eines de-politisierten, humanitären Flüchtlingsschutzes im distanzierten Globalen Süden.

Ab den frühen 2000ern wurde auf dem Fundament der Menschrechte ein umfassendes gemeinsames europäisches Asylsystem etabliert, das ein individuelles Recht auf Asyl in der EU festschrieb. Dies war eine große Errungenschaft der europäischen Einigung. Es wurde von Mitgliedsstaaten aber schnell als innen- und verwaltungspolitische Belastung empfunden und zunehmend durch einen umfassenden, externalisierten und gewaltsamen Grenzschutz ausgehebelt: Ohne Zugang wird das Asylsystem geschont aber das Recht auf Asyl auch faktisch abgeschafft.

Die flüchtlingspolitische Auseinandersetzung in der EU wurde folglich eine Frage des Zugangs von Flüchtlingen zu Schutz. Sie sollte durch sogenannte „sichere und legale Zugangswege“ wie Resettlement oder humanitäre Aufnahmeprogramme gelöst werden. An die Stelle eines Rechtsanspruchs tritt hierbei jedoch eine politische Präferenz der aufnehmenden Staaten, die bestimmen, welche Flüchtlinge aufgenommen werden und Schutz finden sollen und welche nicht.

Ganz im Trend einer solchen interessengeleiteten Politisierung des Flüchtlingsschutzes sind auch die aktuellen Entwicklungen auf europäischer Ebene zu verstehen. Die EU-Grenzen sind nicht für alle Schutzsuchende offen, sondern nur für politisch Erwünschte. Für die meisten Flüchtenden aus Asien, Afrika und dem arabischen Raum bleiben sie gerade in Südeuropa weitgehend verschlossen.

Die Überlegungen der EU, die „Massenzustrom-Richtline“ zu aktivieren, scheint angesichts der hohen Anzahl an Schutzsuchenden aus der Ukraine eine berechtigte und passende Maßnahme. Mit dem Beschluss des Europäischen Rats wird auf Vorschlag der Kommission eine bestimmte Personengruppe benannt, der im aufnehmenden Staat ohne Verfahren (prima facie) Aufenthaltserlaubnis und weitere Rechte zustünden, etwa Grundsicherung, Gesundheitsversorgung, Arbeitsrecht oder das Recht auf Schulbildung. Dieser Status wird für 3 Jahre oder bis zum Widerruf des Rates verlängert, schließt jedoch einen gleichzeitigen Antrag auf internationalen Schutzstatus, also auf Asyl, nicht aus.

Diese Richtlinie wurde 2001 als Reaktion auf die Erfahrungen jugoslawischer Geflüchteter verabschiedet, die als Bürgerkriegsflüchtlinge keinen Anspruch auf Asyl hatten und so in oft rechtlosen Duldungssituationen ausharren mussten. Sie wurde in ihrer 20-jährigen Existenz jedoch noch nie – auch nicht 2015 – von den Mitgliedsstaaten in Anspruch genommen. Dafür gibt es mehrere Gründe: So enthält die Richtlinie beispielsweise keinen Verteilungsmechanismus. Für die Nichtanwendung vermutlich ausschlaggebender ist aber, dass die Schutzlücke für Fliehende vor Krieg und Menschenrechtsverbrechen bereits 2004 geschlossen wurde. In der damals verabschiedeten Qualifizierungsrichtlinie (2004/83/EG, 2011/95/EU), die Kriterien festlegt nach denen Asylsuchende Schutz erhalten, wurde ein subsidiäre Schutz für jene eingeführt, die nicht individuell verfolgt werden, wie in der Genfer Flüchtlingskonvention beschrieben, aber dennoch temporären Schutz vor allgemeiner Gewalt benötigen. Somit besteht in der EU auch ohne „Massenzustrom-Richtline“ ein individueller Rechtsanspruch auf einen befristeten Schutz.

Wieso wird dann eine zusätzliche Richtlinie genutzt, wenn die Flüchtenden aus der Ukraine bereits einen Anspruch auf Schutz besitzen? Zum einen erspart der prima facie-Status Neuankommenden langwierige und aufwendige Asylverfahren, die zudem mit weniger Rechten und Massenunterbringung verbunden wären. Zum anderen haben die osteuropäischen Hauptaufnahmestaaten keine funktionierenden Asylverfahren und -institutionen, zumal für die große Zahl an Schutzsuchenden.

Die EU umgeht somit eine absehbare Krise, die nämlich nicht in der Ankunft der Flüchtenden, sondern in der mangelnden Asylinfrastruktur zur adäquaten Bereitstellung rechtsstaatlicher Asylverfahren begründet wäre. Zugleich leistet die EU damit aber dem Trend Vorschub, Schutz nicht von individuellem Bedarf und verbürgtem Recht, sondern von politischen Interessen der EU abhängig zu machen.

Die Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, haben in der EU so oder so einen Anspruch auf Schutz. Doch die zugrundeliegenden Kriterien bestimmen nicht nur wer Zugang bekommt, sondern auch wer außen vor gelassen wird. Zwar gilt die Richtlinie für alle, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, aber nicht für Flüchtende anderer Kriege wie in Syrien, Jemen oder Äthiopien. Allgemein macht die Anwendung der Richtlinie deutlich, dass Flüchtlingsschutz zunehmend nur bei politischem Interesse der EU gewährt wird – und nicht aufgrund eines individuellen Rechtsanspruchs.

Die Massenzustrom-Richtline ist unter den gegebenen Umständen wohl das richtige Instrument, um den vielen Geflüchteten aus der Ukraine schnelle und unbürokratische Hilfe zuteil werden zu lassen. Sofern sich ihre Notwendigkeit jedoch aus der Abwesenheit eines funktionierenden Asylsystems in den Aufnahmestaaten speist, sollte die Situation genutzt werden, um die Infrastruktur für rechtsstaatliche Verfahren dort aufzubauen. Flüchtlingen muss eine Möglichkeit gegeben sein, auch unter dem Schutz der „Massenzustrom-Richtline“ Asyl zu beantragen, etwa um eine Bleibeperspektive über den Dezisionismus der EU hinaus zu erlangen.

Finanzielle und logistische Unterstützung der osteuropäischen EU-Staaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen sollte mit der Auflage einhergehen, in enger Zusammenarbeit mit der kürzlich gegründeten EU-Asylagentur (EUAA) ein Asylsystem aufzubauen. So wäre Flüchtlingsschutz nicht nur unmittelbar, sondern längerfristig gesichert. Der rechtsstaatliche Schutzanspruch darf nicht durch eine interessengeleitete Flüchtlingspolitik verdrängt werden. In der Abgrenzung einer demokratischen EU von einem Regime autoritärer Willkür sind Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit auch und gerade für Flüchtlinge zu schützen.

Der Beitrag ist auch auf der Seite des IPG-Journals erschienen.

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